SACHSEN-ANHALT: SCHILL-PARTEI STELLT FALSCHEN KANDIDATEN AUF: Ungestillter Prophetenhunger
Ostdeutsche sind politisch labil. Wer das schon immer wusste, konnte sein Vorurteil bei der Landesverbandsgründung der Schill-Partei in Halle bestätigt finden. Es scheint, als liefen die Ossis immer noch jedem nach, der mit der Banane wedelt. Und weil Demokratie anstrengend, kompliziert und unbequem ist, kommt einer gut an, der „so viel Staat wie möglich“ in seinen Parteigeboten fordert. Man weiß schließlich noch, was man auch nach mageren Reden den führenden Genossen schuldet: nicht enden wollenden stehenden Applaus!
Umfragen nach der „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ in Sachsen-Anhalt bringen zwei Prozent, die nach der „Schill-Partei“ das Zehnfache. So viel zur Oberfläche. Doch selbst die Unzufriedensten haben seit dem Beitritt 1990 Erfahrungen gemacht und etwas an Naivität verloren. Auch Schill-Jünger ahnen, dass es möglicherweise nicht allein um ihre Sorgen als Dauerarbeitslose, ausgebremste Unternehmer oder frustrierte Mitarbeiter im öffentlichen Dienst geht. Zumindest unter den Bodenständigen im von Treuhand- und Privatisierungscoups besonders betroffenen Sachsen-Anhalt schläft das Misstrauen nicht, wieder nur als Manövriermasse im Interessenspiel anderer benutzt zu werden. Nicht von ungefähr wurde in Halle von Schill und seinem Adlatus Ulrich Marseille das Pathos der deutschen Einheit beschworen und vor West-Ressentiments gewarnt.
Gerade Marseille aber verkörpert lehrbuchreif den Prototyp des zweifelhaften Wessis und Hasardeurs, die Verquickung von Geld und Macht. „Berlusconi Ostdeutschlands“ nannte ihn ein Schill-Renegat. Insofern dürfte es sich für Schill als Selbsttor erweisen, ausgerechnet diese „Lichtgestalt“ zum Aushängeschild seiner Partei in Sachsen-Anhalt gemacht zu haben – dem ersten Bundesland außerhalb Hamburgs, das erklärtermaßen zum Testfall für seine bundesweiten Ambitionen werden soll. Zwei Fragen drängen sich auf: Wer hat da wen in der Hand, Schill Marseille oder Geldgeber Marseille den Guru des kurzen Prozesses? Und wann bringen die Ossis einen Propheten, dem man nachlaufen will? MICHAEL BARTSCH
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