: Russische Regierung berät ihre Taktik
■ Rücktrittsdrohung zur Besänftigung der Reformgegner/ Boris Jelzin unter dem Druck des Volksdeputiertenkongresses/ Regierung will keine Kursänderung bei der Wirtschaftsreform
Moskau (afp) — Das russische Kabinett hat am Sonntag über die weitere Taktik und einen möglichen Rücktritt der Regierung beraten. Nach Angaben des stellvertretenden Ministerpräsidenten Jegor Gajdar soll das Thema am Montag erneut mit dem Präsidenten Boris Jelzin erörtert werden, der zugleich das Amt des Ministerpräsidenten innehat. Der in Moskau tagende Volksdeputiertenkongreß, das höchste gesetzgebende Organ der Russischen Föderation, hatte die Machtfülle des Präsidenten am Samstag in einer Resolution kritisiert und Jelzin eine Frist von drei Monaten für die Umbildung der Regierung und die Ernennung eines neuen Ministerpräsidenten gesetzt.
Wirtschaftsminister Andrej Netschajew gab bekannt, die Regierung habe bereits eine Rücktrittserklärung unterschrieben und an den Präsidenten weitergeleitet. Politische Beobachter bewerteten den möglichen Rücktritt der Regierung als einen Schachzug zur Besänftigung von Jelzins Gegnern im Volksdeputiertenkongreß. Dahinter stecke der Wunsch der jungen Ministerriege um Jelzin, den lästigen Kongreß zu umgehen, der noch unter der Herrschaft der KPdSU gewählt wurde und ein Hindernis bei der Durchsetzung der von der Regierung geplanten Wirtschaftsreformen darstellt.
Gajdar hatte bereits am Samstag abend betont, daß eine Kursänderung bei der Wirtschaftsreform nicht in Frage komme. Zahlreiche Entschließungen des Deputiertenkongresses vom Samstag liefen auf eine „Lähmung oder einen Rückschlag“ der Reformen hinaus. Die Regierung werde dies nicht hinnehmen. Jetzt müßten Entscheidungen getroffen und Klarheit darüber geschaffen werden, „ob wir Reformen wollen und bereit sind, deren Konsequenzen zu tragen, oder ob wir den Weg zurückgehen wollen“. Die Regierung erwarte vom Kongreß eine Antwort auf diese Frage, sagte Gajdar.
Wirtschaftsminister Netschajew hatte zuvor gesagt, Jelzin sei aufgefordert worden, Maßnahmen gegen die vom Volksdeputiertenkongreß vorgenommene Beschneidung seiner Sondervollmachten und die seiner Mannschaft einzuleiten. Sollten die entsprechenden Resolutionen des Kongresses nicht annulliert werden, so Netschajew weiter, „werden wir zurücktreten“. Nach den Worten des im Namen einer Gruppe „radikaler Jelzin-Unterstützer“ sprechenden Deputierten Anatoli Schabad, wird der Volksdeputiertenkongreß den ihm angewiesenen „historischen Aufgaben“ nicht mehr gerecht. Andere Deputierte, wie der frühere Dissidentenpriester Gleb Jakunin, kündigten eine Unterschriftensammlung bei den Abgeordneten oder einen Volksentscheid zur Auflösung des Kongresses an, zu der Jelzin laut Gesetz nicht befugt ist.
Die Kraftprobe zwischen Regierung und Volksdeputiertenkongreß scheint unausweichlich, nachdem die Abgeordneten ihren Willen bekundet hatten, Jelzin und seine Wirtschaftsreformer künftig stärker zu kontrollieren. Einige der von den Abgeordneten am Wochenende verabschiedete Resolutionen oder Änderungsanträge stellen unverhüllte Angriffe auf den Präsidenten und sein Kabinett dar. So steht die Entschließung zum „Kampf gegen die Spekulation“ im direkten Widerspruch zu dem Dekret Jelzins über die Handelsfreiheit.
Für Verwirrung sorgte dabei die Regel, daß über eine bereits durch Abstimmung beschlossene Frage erneut abgestimmt werden kann. Die Abgeordneten schafften beispielsweise zunächst die Ämter der Staatsräte und der Regionalgouverneure mit der Begründung ab, daß es durch sie zu einer „offensichtlichen Verdoppelung der Macht und der Aktionen der Staatsorgane“ komme. Kurze Zeit später annullierten sie jedoch diese Entscheidung und sprachen von einer entsprechenden „Empfehlung“ an den Präsidenten. Die Räte und Gouverneure waren von Jelzin direkt eingesetzt und mit erweiterten Vollmachten ausgestattet worden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen