■ Russische Öffentlichkeitsarbeit nach Tomsk: Vom Geheimstaat zum Atomstaat?
Am Anfang war der Stalinsche Geheimstaat, und nichts als der Geheimstaat, und da war das Atom alles, und ohne den Geheimstaat war das Atom nichts. Atomkatastrophen wie 1957 die Explosion eines Atommülltanks in Tscheljabinsk im Ural, bei der Hunderttausende verstrahlt wurden und über 20.000 Quadratkilometer Land unbewohnbar wurden, blieben streng gehütet. Dann ereilten den Geheimstaat gleich zwei Katastrophen: Gorbatschow und Tschernobyl. Sie zerstörten ihn, nahmen ihm das Geheimnisvolle, das Schreckliche. Die Manager des militärischen und zivilen atomaren Atomkomplexes mußten sich umstellen. Rußland ist jetzt nicht mehr Geheimstaat, es ist Atomstaat, ein stinknormaler – fast.
Das zeigt auch der Umgang mit dem Atomunfall von Tomsk. Der Atomstaat gibt zu, was sich nicht mehr verheimlichen läßt. Erstmals wird sogar ein Unfall in einer militärischen Atomanlage prompt der Öffentlichkeit gemeldet. Was gesehen und gemessen werden kann, muß auch zugegeben werden. Daraus folgt für die Herren des atomindustriellen Komplexes aber nun nicht, daß alles, was gewußt werden sollte, auch zugegeben werden müßte. Das heißt: Auch in Rußland bestimmt jetzt die hohe Kunst der Verharmlosung das öffentliche Auftreten des Atomstaats.
In dieser hohen Kunst sind die russischen Behörden allerdings noch nicht sehr geübt. Einem Adolf Birkhofer, Vorsitzender der deutschen Reaktorsicherheitskommission, wäre ein Satz wie ihn Atommiministeriumssprecher Goergi Kaurow unterlief, nicht passiert. Kaurow sagte: „Ungefähr 80 Millionen Curie Radioaktivität sind in Tschernobyl freigeworden. In Tomsk war es nicht einmal eines, daß ist achtzigmillionenmal weniger.“
Weit gravierender als diese Ungeschicklichkeit ist die andere Geheimniskrämerei des russischen Atomstaats. Wir erfahren vom Unfall, von der Wolke, von den Gegenmaßnahmen, aber gerade von der geheimen Stadt Tomsk-7, in der möglicherweise immer noch 100.000 Menschen direkt neben der Katastrophe leben, erfahren wir nichts. Der Grund ist klar: Die Anlage in Tomsk-7 mit ihrer Plutoniumfabrik steht immer noch für das militärische Drohpotential des russischen Staats – die einzig verbliebene Stütze seiner weltpolitischen Rolle. Da schlägt das Herz des militärischen Atomkomplexes. Hier bleibt die Geheimhaltung in Takt. Die Zeiten, als Rußland in Brüssel Nato- Soldaten zum Aufpassen auf die eigenen militärischen Atomanlagen anforderte, sind längst perdu. Das Herz soll vielmehr weiterschlagen: Die Regierung in Moskau will in Tomsk-7 angeblich die Atomwaffen, die nach dem START-Verträgen überflüssig geworden sind, zerlegen. Rußland hat alles im Griff. Hermann-Josef Tenhagen
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