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Archiv-Artikel

Rückkehr von einem deutschen Sonderweg

Deutschland hat am Ernährermodell festgehalten, als viele andere Europäer schon ihr Familienbild reformierten. Warum eigentlich?

BERLIN taz ■ Unterricht im Fach Erziehungswissenschaft, 9. Klasse, im Jahr 1984 in einem Bonner Gymnasium. Ein Film wird gezeigt: Kinder sitzen in einer langen Reihe auf Töpfchen. Der Kommentar der Lehrerin: In der DDR würden die Kinder ins Kollektiv sozialisiert, heraus kommen autoritätshörige Ich-schwache Charaktere. So tickte der alte Westen, und weite Teile des Westens ticken so bis heute. Es sind Mütter, die ihre Kinder nicht „weggeben“ möchten und die sich nun verwundert fragen, was sie mit einem Jahr Elterngeld sollen, wo sie doch drei Jahre zu Hause bleiben wollten.

Es ist ein Weltbild mit hohen Ideologieanteilen. Seine Folgen sind heute sichtbarer denn je: Der Lohnabstand zwischen Frauen und Männern ist einer der höchsten in Europa. Das Risiko der Familienarmut ist hoch – weil es nur einen Verdiener gibt statt zwei. Und die Geburtenrate sinkt und sinkt.

Dass diese Fakten heute als Argumente Gehör finden, ist eine neue Entwicklung. Vor allem für die CDU und ihre Klientel. Schließlich war die Union noch mit der Mütterprämie „Familiengeld“ in den Wahlkampf gezogen. Und nun will eine CDU-Familienministerin die Mütter nach einem Jahr wieder zur Arbeit schicken. Da stürmt jemand mit Macht gegen das Bild der „deutschen Mutter“, das schon sprichwörtlich geworden ist. Und fängt an, einen deutschen Sonderweg zu beenden.

Eine alte Unions-Kämpferin sieht das mit großer Befriedigung: Rita Süssmuth bemerkt erleichtert: „Die CDU hat einen wichtigen Schritt in Richtung Realitätsanerkennung getan.“ Die Ex-Familienministerin (1985 bis 1988) erinnert sich noch gut an die Debatten darüber, ob das Kind einer Tagesmutter anvertraut werden darf. „Da kamen dann echte Killerargumente: Das sei sozialistische Erziehung. Und Kinderärzte verwiesen auf Heimkinder mit massiven psychischen Störungen“, so Süssmuth. Die Bindung des Kindes an die Mutter wurde damals für heilig erklärt. „Man wehrte jede Form kollektivistischer Erziehung ab, mit dem Hinweis sowohl auf die NS-Erziehung als auch auf die DDR.“

Warum aber haben Länder wie Schweden offenbar keinen Horror vor NS-Zeit oder Sozialismus entwickelt? Die Historikerin Wiebke Kolbe meint: Gesellschaften wie die schwedische, die von der agrarischen Prägung ohne eine lange bürgerliche Epoche schnell zur Dienstleistungsgesellschaft übergingen, nahmen die Gewohnheit, dass Mütter arbeiten und die Kinder nebenbei betreut werden, einfach mit. Das Bürgertum erst habe sich die erwerbstätige Frau abgewöhnt – und damit auch die kollektiv betreuten Kinder.

Dazu kommt, dass Schweden eine ungebrochene Tradition der Bevölkerungspolitik hat, die immer selbstbewusst gegen die Züchtungsfantasien der Nationalsozialisten gesetzt wurde. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts betrieb Schweden ebenso wie etwa Frankreich eine geburtenfördernde Politik. „Es war eine attraktive Verbindung von Bevölkerungspolitik mit sozialreformerischen Ideen“, beschreibt Kolbe das schwedische Modell.

In Deutschland hatte es vor der NS-Zeit ähnliche Ideen gegeben, aber „der Nationalsozialismus hat alles abgebrochen“, urteilt die Wissenschaftlerin. Dieser Bruch sei auch für eine weitere Entwicklung ausschlaggebend: In Schweden forderte nach dem Krieg eine große Zahl von Akademikerinnen Geschlechtergleichheit in Arbeit und Familie ein. In Deutschland war die Frauenbewegung der 20er-Jahre zerschlagen worden, ein intellektuelles Frauenmilieu existierte nach dem Krieg kaum mehr.

Die Diskussion in Deutschland lief deshalb lange im restaurativen Duktus der Adenauerzeit, bestätigt auch Silke Bothfeld vom sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. „Es galt, Frauen von der Erwerbsarbeit zu entlasten, damit sie Kinder bekommen.“ Erwerbstätige Mütter, das war etwas für arme Familien, „die das nötig haben“.

Obwohl das Elterngeld für die Union eine Neuerung ist, sieht Kolbe darin keinen echten Paradigmenwechsel: Im Vergleich mit Schweden sei das Elterngeld immer noch eine Brücke ins Nirgendwo: „Schweden hat zugleich massiv Kitaplätze subventioniert“, die zarten Ansätze für mehr Kitas in Deutschland seien demgegenüber „eher kläglich“.

Bothfeld kritisiert, dass auch das Steuersystem der Elterngeld-Politik entgegenwirkt, weil es mit Steuerklasse V und Ehegattensplitting immer noch fördert, dass eine Frau so wenig wie möglich arbeitet. Auch sozialpolitisch ist das Elterngeld schlecht angeschlossen: Das zweite Jahr Erziehungsgeld für arbeitslose Familien wird einfach weggekürzt, obwohl diese weder ihr Kind in die nicht vorhandene Kita schicken können noch selber an den nicht vorhandenen Arbeitsplatz zurückkönnen. Schweden hat dieses Problem weniger, die Arbeitslosigkeit ist viel geringer. Zudem zahlt die schwedische Elternversicherung mit etwa 600 Euro einen doppelt so hohen Sockelbetrag wie der deutsche Staat beim Elterngeld: „Man hat bei der Einführung nicht etwas weggekürzt, sondern den Leuten etwas dazugegeben“, betont Kolbe, „Das erhöht natürlich die Akzeptanz.“ HEIDE OESTREICH