Rückblick Von Alis Tod über Silvas Triumph bis zur Verwandlung von Ronaldo war 2016 ein Jahr, das nicht immer großen Sport, aber oft große Sportmomente bereithielt: Das Jahr der Tränen
von Thomas Winkler
Kurz bevor Muhammad Ali starb, hatte ich in einem neuseeländischen Museumsshop eine Postkarte entdeckt. Ein berühmtes Bild des noch jungen Kämpfers beim Schattenboxen unter Wasser, daneben das Zitat: „The man who has no imagination has no wings.“ Erinnerungen stiegen auf an verschüttete Kindheitsmomente, nächtliches Wecken und Nächte vor dem Fernseher. Wenige Wochen später kamen die Meldung und die Trauer und tatsächlich das Gefühl eines Verlusts. Einer war gegangen, nicht irgendeiner, sondern jemand, der zwar zwar vielleicht nicht einmal der beste Boxer aller Zeiten war, aber ein großer Sportler, ja sogar, wie er sich selbst getauft hatte: der Größte. Ali transzendierte den Sport, wie das nur wenigen gelungen war. Er stand für gesellschaftliche Veränderung, für politischen Fortschritt, für Coolness, für Würde in der Niederlage und im Alter, für ein erhabenes, gelungenes Leben, das trotz des Parkinsonzitterns nicht vergeudet war. Ali war jemand, der einen berührte, selbst damals in jenen tiefen Nächten, als man noch keine Ahnung hatte von Schwarz und Weiß, von Jim Crow, von den Umständen, aus denen er herausragte wie ein Leuchtturm, der anzeigt, wo die Zukunft ist. Muhammad Ali wurde 74 Jahre alt, und als er in Louisville, Kentucky, beerdigt wurde, säumten die Trauernden die Straßen.
Es sind Tränen wie die, die wegen Alis Tod vergossen wurden, die das Jahr 2016 prägten, auch und gerade im Sport. Der Sport selbst war sicherlich nicht immer groß: Die Fußballeuropameisterschaft von Frankreich war fußballerisch ermüdend, aber hielt mit dem von englischen Tränen begleiteten Aus gegen Island die größte Sensation der jüngeren Fußballhistorie bereit. Und in Frankreich geschah noch ein weiteres, sogar größeres Wunder: die Menschwerdung Cristiano Ronaldos. Wieder bewiesen die Tränen ihre Macht. Sie weckten Mitleid und Verständnis, sogar mit einem schnöseligen Multimillionär. Als Ronaldo zu der Heulsuse wurde, als die er lange schon verrufen war, sah die Welt zu und öffnete ihr Herz. Der Fußballer, den jeder liebend gern hasste, wurde im EM-Finale zum Sympathieträger. Seine Tränen, die flossen, als der Portugiese in der 25. Minute verletzt ausgewechselt werden musste, das anschließende Bangen und Mitfiebern mit seinen Teamkollegen an der Seitenlinie, schließlich der hemmungslose Jubel, der ihn, die Shorts unvorteilhaft hochgerutscht, endgültig aus der Rolle, aus dem sorgsam gezimmerten Image fallen ließen, verwandelten Ronaldo vor unser aller Augen: Aus einer pomadisierten Comicfigur wurde ein Mensch.
Manchmal aber sind Tränen umgekehrt auch ein Signal, dass aus einem Menschen nun ein Symbol, eine Ikone geworden ist. So wie bei Rafaela Silva, der brasilianischen Judoka, die, als sie die erste Goldmedaille gewann für das Gastgeberland der Olympischen Spiele, dieses Land auch daran erinnerte, dass es Slums gibt wie jenen, aus dem die 24-Jährige stammt, dass es Rassismus gibt wie den, den sie nach ihrem Aus vier Jahre zuvor in London erfahren musste, und dass es Homophobie gibt, die die in einer lesbischen Beziehung lebenden Silva zur Genüge kennt. Silva ist kein brasilianischer Ali, aber sie hat bewiesen, dass der Sport in seinen besten Momenten doch noch eine Kraft entwickeln kann, die über den Kommerz, über den Unterhaltungscharakter, über die Bilderflut, über den Sport selbst hinausreicht. In diesem einen Moment von Rio, in diesem großen Moment kamen sie alle zusammen, die Imagination und die Flügel, Muhammad Ali und Rafaela Silva.
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