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■ Rot-Grün in BerlinBerlin ist nicht Nordrhein-Westfalen

Wenige Monate vor der Wahl loten die Meinungsforscher die Psyche der Berliner aus. Dabei zeigt sich: Während der Westteil der Stadt in fast schon gewohnter Behäbigkeit – eine Ausnahme bildet die schwindende Akzeptanz der FDP – die alten Politstrukturen aufrechterhält, bewegt sich der monolitische Osten. Nicht nur innerparteilich, auch in der Wählerschaft zeichnet sich ein langsamer Erosionsprozeß ab. Glaubt man den jüngsten Umfragen, dann wäre derzeit eine rot-grüne Mehrheit sogar ohne Unterstützung durch die PDS möglich. Nicht die mit großer medialer Aufmerksamkeit begleitete Leiche der Hauptstadt-Liberalen, sondern die Klientel links von SPD und Bündnisgrünen wird die Wahl am 22. Oktober entscheiden. Die eigentlichen Königsmacher eines Berliner Wechsels sind jene schwer einschätzbaren Ost-Wähler, die von der PDS noch nicht genug enttäuscht wurden, um mit ihrem Kreuz Rot-Grün zur potentiellen Regierungsmehrheit zu verhelfen. Die bündnisgrüne Basis hat am Wochenende mit ihrem überraschenden Votum, das ehemalige SED-Mitglied Sybill Klotz auf den ersten Platz der Landesliste zu wählen, ihr in Ostberlin weitverbreitetes Bild einer unbarmherzigen Westpartei korrigiert. Damit könnte jener Anspruch in Erfüllung gehen, den sich der Berliner Landesverband selbst gesetzt hat: für eine eigene rot-grüne Mehrheit jenseits der quälenden PDS-Tolerierungsfrage zu sorgen.

Die Klarheit, mit der sich eine kleine Partei wie die Bündnisgrünen auf eine Koalitionsaussage festgelegt hat, bringen die Berliner Sozialdemokraten nicht auf. Ihre Spitzenkandidatin Ingrid Stahmer gefällt sich in der Rolle der schweigsamen Frau. Gerade der Mangel an Alternativen und Konzepten jenseits einer CDU/ SPD-Regierung scheinen ihr bislang Recht zu geben. 40 Prozent will die Sozialsenatorin als künftige Regierende Bürgermeisterin – nur ein Prozent mehr kann der christdemokratische Amtsinhaber Eberhard Diepgen vorweisen. Während die CDU sich auf den Westteil eingeschworen hat (in Ostberlin liegt sie bei 21 Prozent), muß die SPD den doppelten Spagat versuchen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, sich als erste Gesamtberliner Partei zu etablieren. Doch sie nutzt sie nicht, um daraus politische Alternativen links von der CDU zu entwickeln. Zögerlich, ja ängstlich klammert sich die SPD am Berliner Senatstisch fest. Fast scheint es, als habe so manche Spitzenkraft ihr Abonnement für weitere vier Jahre Große Koalition schon im voraus bezahlt. Vielen scheint der Unsicherheitsfaktor PDS gerade recht zu kommen. Rot- Grün – das erweckt bei manchen Sozialdemokraten böse Erinnerungen an 1989, als Walter Momper und die AL bis zum knallenden Ende einen zermürbenden Kleinkrieg führten. Zum Trauma gesellt sich jenes spezifisch Westberliner Minderwertigkeitsgefühl, das seit dem Fall der Mauer ängstlich nach Bonn schielt. Ob Umzugspläne oder Millionensubventionen – vielen in der SPD ist das hiesige provinziell verschwiemelte Berufsberlinertum näher als die Suche nach einem Ausweg aus der Umklammerung der Union. Rot-Grün mag im Westen der Republik durch den Zerfall der FDP angesagt sein. In Berlin hingegen blockiert nicht nur die Unwägbarkeit, die das Votum der PDS-Klientel darstellt, sondern vor allem der mangelnde Wille der SPD den Wechsel. Severin Weiland

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