piwik no script img

Roman „Muskeln aus Plastik“Hot und behindert

Chronisch erschöpft sein und trotzdem horny. Selma Kay Matter verhandelt im Roman „Muskeln aus Plastik“ Transness, Non-Binarität und Post-Covid.

Fatigue und Schmerzen: Selma Kay Matter Foto: Anja Weber

„Also, Boy. Stell dir vor: Du bist ich“, schreibt Selma Kay Matter. Dieses Ich heißt Kay und ist, ebenso wie Autor_in Matter, Mitte zwanzig, nicht-binär trans-maskulin und hat Post-Covid.

Matter berichtet in deren erstem Prosawerk „Muskeln aus Plastik“ ungeschönt von Fatigue und Schmerzen, die Kay nach jeglicher physischer und emotio­naler Belastung befallen. Post-Covid und das damit oft einhergehende ME/CFS- oder chronische Fatigue-Syndrom werden auch als „unsichtbare Erkrankung“ beschrieben, denn die Krankheit ist von außen nicht erkennbar.

Niemand sieht, wie Kay sich von simplen Aufgaben wie dem Ausräumen der Spülmaschine 23 Stunden lang erholen muss oder wie Kays Finger schon vom Tippen am Laptop schmerzen. Selbst die WHO hat keine einheitlichen Diagnosekriterien für Post-Covid. Wie also über eine Krankheit schreiben, die sich nicht beschreiben lässt? „Muskeln aus Plastik“ ist ein Versuch, diese Frage zu beantworten.

Für Kay steht seit der Erkrankung alles in Relation zu Schmerz. Jeder Handgriff kann ernste Folgen für ihre Gesundheit haben. Selbst verlieben darf Kay sich nicht Hals über Kopf, weil das zum Überschreiten des Maximalpulses führen könnte. Dabei ist Kay total verknallt in Aron. Aus Angst, als kranke Person für Aron weniger begehrenswert zu sein, versucht Kay beim Flirten weniger behindert zu wirken. Dey (genderneutrales Pronomen in Anlehnung an das englische „they“) verschweigt Schmerzen und Ermüdung und ärgert sich im Stillen über Arons Privileg, keine Gedanken an so etwas wie einen Maximalpuls verschwenden zu müssen.

Das Buch

Selma Kay Matter: „Muskeln aus Plastik“. Hanser Berlin, Berlin 2024, 240 Seiten, 23 Euro

Matter kontextualisiert Kays Gefühl als Internalisierung von ableistischen gesellschaftlichen Schönheitsidealen, die behinderte Personen als nicht begehrenswert darstellen. Zwischen Aron und Kay tut sich ein Spannungsfeld zwischen Intimität und Distanz auf. Sie sind in einer t4t-, „trans for trans“-Beziehung und haben ähnliche Perspektiven auf Themen wie Gender und Transition, aber die gegensätzlichen Erfahrungen in Bezug auf Behinderung stehen zwischen ihnen.

Ikea-Filiale ohne Ausgänge

Die Grenzen des gegenseitigen Verständnisses werden spürbar, als Kay Ilay kennenlernt. Ilay ist ebenfalls chronisch krank und kann Kays Bedürfnisse deswegen leicht nachvollziehen. Access intimacy nennt die Autorin und Aktivistin Mia Mingus dieses grundlegende Verständnis unter behinderten Personen. In einem surrealistischen Kapitel streifen Ilay und Kay durch eine dystopische Ikea-Filiale ohne Ausgänge.

Die Türen öffnen sich zu Momenten aus Kays Vergangenheit, die Kay und Ilay gemeinsam analysieren. Im nächsten Augenblick wechselt die Erzählperspektive und „du“ wirst plötzlich dazu aufgefordert, Zeug_in von Kays Schmerzen zu werden. Kay ist so schwach, dass dey die Wohnung nicht verlassen kann. Einsam und horny lädt dey Grindr herunter und versinkt in Fantasien von Wohnungen, die speziell für kranke und behinderte Personen eingerichtet sind – ein „Sickboy Apartment“, in dem Kay gleichzeitig „hot und behindert“ sein könnte.

In jedem der sechs Kapitel wird aus einem anderen Winkel auf Behinderung, Genderidentität und deren Intersektionen geblickt. So spielt Matter etwa mit Ideen wie „Hanky Codes“ für Care-Arbeit. Hanky Codes sind kleine Stofftaschentücher, die unter schwulen Männern als Erkennungszeichen für sexuelle Präferenzen getragen wurden. In Matters Vorstellungen von Hanky Codes verschmelzen Fürsorgebedürfnisse mit queeren Konzepten und Forderungen der Disability-Justice-Bewegung.

Autofiktionaler Stil

Die Erzählung ist untermalt mit Zitaten aus Essays und Memoiren anderer queerer, kranker oder behinderter Personen. Selma Kay Matter bezieht sich unter anderem auf Susan Sontag, Eve Kosofsky Sedgwick und Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha und bindet direkte Zitate in den sonst autofiktionalen Stil ein.

„Muskeln aus Plastik“ gibt eine breitgefächerte Einführung in Literatur und Aktivismus der „Disability Justice“-Bewegung und liefert dabei eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Einordnung von Transness, Behinderung und Sorgearbeit. Theorie ist mit Autofiktion verbunden, die auch durch den umgangssprachlichen Ton lebendige Gedankenspiele zulässt und jede Seite in mehrere Absätze unterteilt. Das macht den Text trotz Informationsdichte zugänglich.

Die Suche nach Worten für chronische Krankheit und Schmerz jedoch scheitert trotz vielfältiger Annäherungsversuche letztendlich. Der unsichtbare Schmerz will eine Leerstelle bleiben, konkludiert Matter. Mit „Muskeln aus Plastik“ füllt Selma Kay Matter dennoch eine Leerstelle in der deutschsprachigen Literaturlandschaft mit einem persönlichen und informativen Buch zu Post-Covid aus queerer Perspektive.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare