Rio Reisers Umbettung: Ende einer Pilgerstätte
Rio Reisers Gutshof in Fresenhagen ist verkauft und wird ausgeräumt. Dabei tritt ungeahntes Material zutage, das mitunter eine Chance auf simple Entsorgung hat.
Die Sache mit der Umbettung seines Bruders liegt Gert Möbius schwer im Magen. Im Februar soll sie stattfinden, den Termin weiß er noch nicht genau. Vor allem weiß er noch nicht, ob er die Journalisten dabeihaben will, die Gert Möbius an diesem nasskalten Dienstag ständig anrufen.
"Ich verstehe gar nicht, was die an der Umbettung so interessant finden", sagt Möbius, während er im Veranstaltungssaal des Gutshofs Fresenhagen einen Notenständer zusammenfaltet. "Da wird ein Bagger kommen und das Grab ausheben, und wenn es der Sarg nicht mehr tut, dann nehmen die für die Überführung einen neuen."
Gert Möbius ist der Bruder von Rio Reiser, dem Sänger von Ton Steine Scherben und Urheber des Hits "König von Deutschland". Reiser wurde 1996 mit Sondergenehmigung der damaligen Ministerpräsidentin Heide Simonis im Garten seines Hofs im nordfriesischen Fresenhagen begraben. Umgebettet wird er, weil Möbius den Hof nicht mehr finanzieren konnte und verkauft hat. Reisers Grab soll nach Berlin verlegt werden.
Seitdem klingelt bei Möbius das Handy. Das Medieninteresse ist groß, weil die Geschichte nach Journalistenmaßstäben eine gute Geschichte ist: Reiser steht für das Lebensgefühl der linksalternativen Szene der 1970er Jahre. Es gibt die Mythen vom wilden Leben, die sich um ihn ranken, und es gibt diesen reetgedeckten Friesenhof hoch im Norden, in dem alles unverändert blieb, um den Geist von damals fortleben zu lassen. Und dann gibt es dieses Grab im Garten, das das Haus zur Pilgerstätte und Reiser zum Heiligen gemacht hat.
Für Reiser war der Gutshof seit 1975 ein Rückzugsort, Anfangs mit Band im Sinn einer Landkommune, ab 1985 dann ohne. Nach Reisers Tod sollte der Hof als Veranstaltungsort und Gedenkstätte fortbestehen. Das klappte anfangs ganz gut: Fans aus ganz Deutschland kamen, wollten gleichgesinnte Treffen, für wenig Geld vor Ort übernachten, diskutieren, so tun, als wäre von damals noch etwas übrig. Zuletzt wurden die Leute immer weniger, aber die Kosten blieben. Ab Februar soll aus dem Hof eine Einrichtung für betreutes Wohnen für Jugendliche werden.
Bis dahin muss alles ausgeräumt werden. Das kleine Museum mit den Fotos, den Reiser-Skulpturen und Zeitungsausschnitten. Die Licht- und Tonanlage in der Scheune, in der die Konzerte stattfanden. Das Bett, die Regale und der Tisch, die einst in Reisers Zimmer standen, alles Vollholz, alternativ bodenständig. Den 7,5-Tonner hat Möbius direkt vor die Eingangstür gestellt, und es fällt schwer zu glauben, dass er wie geplant anderntags fertig sein wird.
Was auch daran liegt, dass der Umzug unerwartetes Material zutage fördert. Von den Scherben-Plakaten, -Covern und -Briefen, die Möbius noch auf dem Dachboden gefunden hat, weiß er nicht recht, was er für sein Rio-Reiser-Archiv in Berlin behalten, und was er wegschmeißen soll. "Die Briefe von anderen Bands an die Scherben nehme ich mit", sagt Möbius. "Die Fanbriefe brauche ich nicht mehr."
Beim Umzug helfen nur eine Handvoll Leute, Möbius Frau ist dabei, der Hausmeister und ein Nachbar, für den das Haus die einzige Chance war, in Nordfriesland ab und zu linke Diskussionen zu führen.
Die Zahl der Helfer ist in etwa so groß wie die der Fernsehleute, die gekommen sind, ohne dass Möbius sie eingeladen hätte. Während im Museum die Vitrinen abgebaut werden, steht Möbius vor dem Grab des Bruders und erzählt zum x-ten Mal, was passiert ist. Möbius ist Mitte 60 und sagt, dass ihn das anstrenge, immer live vor der Kamera, in der Kälte. Sein Frau sagt, dass sie ihn jetzt langsam bräuchten, beim Umzug.
Trotzdem trudeln weitere TV-Teams ein und wollen, dass Möbius für die Kamera noch mal mit Gitarre in der Hand aus der Tür geht. Möbius macht alles mit, aber dann ist er verschwunden. Die TV-Leute suchen ihn im ganzen Haus, aber er ist weg. Er steht im Saal, wo es warm ist. Und sagt: "Ich glaube, das mit der Presse bei der Umbettung mache ich nicht. Wäre doch peinlich, wenn die da kommen. Der ganze Trubel. Ich fänds peinlich."
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