: Revue der Erhabenheit
Hermann W. von der Dunk hat eine voluminöse „Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts“ geschrieben – gelehrt, liberal, humanistisch. Aber sein Kulturbegriff ist veraltet und viel zu eng
VON MICHAEL WILDT
Was ist Kultur? Und was soll deren Geschichte sein? Allein wenn man an die möglichen Gegenbegriffe zu Kultur denkt: Natur, Barbarei, Zivilisation, wird rasch deutlich, auf welch unsicherem Terrain sich derjenige befindet, der eine Kulturgeschichte schreiben will.
Selbstverständlich kennt Hermann W. von der Dunk, geboren 1928 in Bonn, seit 1937 in den Niederlanden und bis zu seiner Emeritierung Professor für Geschichte und Kulturgeschichte in Utrecht, die verschiedenen wie unterschiedlichen Bedeutungen des Kulturbegriffs. Aber lange hält er sich in der knappen Einleitung mit den intellektuellen Debatten um Kultur nicht auf; mit Kulturtheoretikern wie Georg Simmel, Ernst Cassirer, Pierre Bourdieu oder Kulturhistorikern wie Jacob Burckhardt, Karl Lamprecht und Carlo Ginzburg setzt er sich gar nicht auseinander.
Vielmehr traktiert er altväterlich noch einmal den Unterschied zwischen höheren und niedrigeren Erscheinungsformen von Kultur, was sinnig erläutert wird an dem Unterschied zwischen der Matthäuspassion und dem Schlager „Veronika, der Lenz ist da“, an der Welt eines Proust und dem Horizont der Rolling Stones. Nicht Sprache, materielle und populäre Kulturen, soziale Praxen, Medien, symbolische Formen sollen im Mittelpunkt dieser zwei opulenten Bände stehen, sondern die „Schöpfungen von hohem intellektuellen und ästhetischen Rang, die unserer Existenz einen Wert und etwas wie Helligkeit verleihen“.
Bei so viel Erhabenheit ist man auf das Schlimmste gefasst und dann doch erleichtert, dass der Kulturprofessor aus Utrecht gottlob die Niederungen der Kultur nicht scheut. Sein opulentes Werk beginnt folgerichtig mit einem Rückblick auf das 19. Jahrhundert, denn von dort bezieht von der Dunk seinen Kulturbegriff. Er lässt die Geistesströmungen der Zeit noch einmal Revue passieren und trennt säuberlich in statisches versus dynamisches Weltbild, hier Marx, dort christliche Romantik.
Die Entwicklung der Wissenschaft wird ebenso skizziert wie die der Kunst und der Sexualmoral. Über allem thront König Fortschritt. Da Kulturgeschichte nicht ohne Gesellschaft auskommt, werden die sozialen Klassen– Adel, Bürgertum und Arbeiter – abgehandelt ebenso wie soziokulturelle Bewegungen: seien es die von Frauen, Jugend oder Reformpädagogen. Dem Sport ist ebenso ein Abschnitt gewidmet wie den Kirchen, und es gibt sogar knapp zehn Seiten über die „Kunst und die Menge“. Erwartungsgemäß geht es um Unterhaltungsromane, Kaffeehausmusik und Revueveranstaltungen, denn die Menge ist selbstverständlich bürgerlich.
Bolschewistische Revolution und Erster Weltkrieg erscheinen bei von der Dunk eher als ein Schlachtfeld der Ideen denn als körperliches Gemetzel. Die Reaktion auf die „Urkatastrophe“ des Jahrhunderts fällt bei ihm geistig und literarisch aus. Das ist unter seinem Blickwinkel betrachtet nicht verkehrt. Und keines der Bücher, das bei von der Dunk Erwähnung findet, ist bedeutungslos. Aber würde man heute nicht erwarten, dass die große Neuerung in der Wahrnehmung und Erinnerung des Weltkriegs – die Fotografie – entsprechende Berücksichtigung in einer Kulturgeschichte finden müsste?
Literarische und philosophische Debatten werden materialreich dargestellt, und doch spürt man auf jeder Seite, dass etwas fehlt. Von der Dunk zeichnet zwar die alten und immer wieder repetierten Auseinandersetzungen nach, schildert die Kunstrichtungen der 20er-Jahre wie die Kulturkritik, Expressionismus wie Proletkult, Heidegger wie Thomas Mann – aber blendet all die tiefgreifenden kulturellen Veränderungen von Arbeit, Freizeit, Konsum, Information, Medien, Geschlechterbeziehungen oder Körperlichkeit aus.
Mit seinem eng und bildungsbürgerlich gefassten Kulturbegriff kann von der Dunk natürlich im Nationalsozialismus keine Kultur entdecken. Stattdessen entfaltet er seine Sicht vom Erfolg kommunistischer und faschistischer Utopien, die aus einer Mischung aus Opportunismus, Heilserwartung, revolutionärer Begeisterung und Propaganda bestanden hätten. Das alles ist nicht verkehrt und bleibt doch unbefriedigend, weil es umfassend zu erklären beansprucht und doch zu kurz greift. Und gemessen zum Beispiel an Furets großer Analyse des Kommunismus, der sich ähnlich wie von der Dunk auf Bücher, Texte, Schrift konzentriert hat, bleibt das Buch des Niederländers blass und oberflächlich.
Fast drei Viertel seiner zwei Bände hat von der Dunk bereits hinter sich, bevor er die Jahrhundertmitte, das Jahr 1945, erreicht. Auf den letzten vierhundert Seiten folgt die Geschichte der Kalten Kriegs und des wachsenden Wohlstands, der Kultur als Massenkonsumartikel, was hier in erster Linie Film und Rock ’n’ Roll heißt; 68 darf ebenso wenig fehlen wie Pop-Art und der Zusammenbruch des Sowjetimperiums.
Und spätestens hier, an einem unscheinbaren Kapitel, das den Titel trägt: „Osteuropa: Kultur im Dienst von Partei und Doktrin“, wird unübersehbar klar, worin die große Leerstelle dieses Buches besteht: Von der Dunks Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist eine Geschichte Westeuropas, ja noch begrenzter: Deutschlands mit Abstechern nach Frankreich, England, Italien und in die Sowjetunion. Die osteuropäischen Regionen fallen weitgehend aus seiner Perspektive heraus und die übrige Welt zur Gänze. Gerade dieses 20. Jahrhundert, das allein mit zwei Weltkriegen, etlichen Völkermorden, so genannter Entkolonialisierung und einer rasanten Entwicklung der Weltökonomie wie der Globalisierung von Kommunikation und Medien wie wohl keines vor ihm weltumspannend war, erscheint bei von der Dunk nur in der Begrenzung auf einen kleinen Teil Europas und dort auf den kleinen Teil der Elitenkultur.
Statt Hochkultur hätte Weltkultur die Idee, die Herausforderung dieses Werkes sein müssen. Sein aus dem 19. Jahrhundert stammender Kulturbegriff hat von der Dunk in die gelehrte Dachstube eingesperrt und ihm sämtliche Türen verschlossen, die in diesem globalen Haus hätten geöffnet werden können. So materialreich und gelehrt, liberal und voll humanistischer Absicht dieses Werk ohne jeden Zweifel geschrieben ist, so ließe sich doch kaum eine altertümlichere und eingeschränktere Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts denken.
Hermann W. von der Dunk: „Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts“. 2 Bände, 608 und 696 Seiten, DVA, München 2004, 128 Euro