Revolutionen in Arabien: Leben wie die Türken
Vielen im Nahen Osten gilt die türkische AKP mit ihrem Anspruch, Islam und Demokratie zu verbinden, als Vorbild - erst recht seit dem Bruch mit Israel.
ISTANBUL taz | Bislang hat sich nur ein relevanter Politiker eines anderen Landes so eindeutig auf die Seite der ägyptischen Protestbewegung gestellt und Ägyptens Staatspräsident Husni Mubarak zum Rücktritt aufgefordert: Recep Tayyip Erdogan. Kein Wunder, dass die ägyptische Regierung über diese "unzulässige Einmischung" nicht allzu erfreut ist. Wie türkische Medien am Dienstag meldeten, bestellte das ägyptische Außenministerium am Vortag den türkischen Botschafter in Kairo ein.
Zudem habe der ägyptische Außenminister Ahmet Abul-Gheit seinem türkischen Kollegen Ahmet Davutoglu eine schriftliche Warnung zukommen lassen. Darin heißt es, nur das ägyptische Volk könne entscheiden, welchen Weg es wähle. Viele Beobachter denken: Dieser Weg könnte der türkische Weg werden.
Einer in sieben Ländern des Nahen Ostens durchgeführten und in der vergangenen Woche veröffentlichten repräsentativen Umfrage zufolge betrachten rund ein Drittel der Befragten die Türkei als Modell für ihr eigenes Land. Und mehr als 85 Prozent wünschen sich einen größeren türkischen Einfluss in der Region.
Die Umfrage, für die der renommierte Istanbuler Thinktank Tesev im September 2.500 Menschen in Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien, Syrien, dem Libanon, dem Irak und dem Iran befragte, kommt zum richtigen Zeitpunkt. Seit den Aufständen in Tunesien und Ägypten und der Unruhe, die auch andere Länder der Region erfasst hat, stellt sich die Frage, was anstelle der autoritären Regimes treten wird.
Seit Erdogan ist die Türkei Vorbild
Viele Oppositionelle im Nahen Osten blicken dabei mit großem Interesse Richtung Türkei, dem einzigen islamisch geprägten Land, in dem seit 60 Jahren eine leidlich funktionierende parlamentarische Demokratie existiert.
Denn eine echte Inspiration für den Nahen Osten, das zeigt auch die Umfrage, wurde die Türkei erst, nachdem Erdogans islamisch grundierte AKP im Jahr 2002 an die Macht kam. Die AKP hat es geschafft, das säkulare Militär politisch in die Schranken zu weisen, und arbeitet ihrem eigenen Anspruch nach daran, eine konservativ-religiöse gesellschaftliche Grundhaltung mit einem demokratischen System in Einklang zu bringen. Zudem kann sie auf ein stabiles Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 5 bis 6 Prozent verweisen.
Und noch aus einem weiteren Grund genießt Erdogan im Nahen Osten eine Popularität wie kein türkischer Regierungschef vor ihm: Spätestens seit dem Gazakrieg vom Januar 2009 ist Erdogan auf einem Konfrontationskurs gegenüber Israel.
Diese Neuausrichtung der türkischen Politik ist mittlerweile auch materiell und kulturell unterfüttert. Die Türkei intensivierte ihren Wirtschaftsaustausch mit den arabischen Ländern, redet sogar schon von einer Freihandelszone nach dem Vorbild der EU und hat mit fast allen arabischen Ländern die Visafreiheit eingeführt. Arabische Touristen erfreuen sich seitdem in immer größerer Anzahl der Freiheit, die ein Istanbul-Urlaub gewährt, während sie zu Hause türkische Serien im Fernsehen anschauen.
Große Unterschiede zu Arabien
"Es ist nahe liegend, dass viele Araber sich durch die Türkei inspirieren lassen", sagte Fadi Haruka, Professor am Londoner Chatham House gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Doch andererseits seien die Unterschiede auch groß: Die Türkei ist Nato-Mitglied und EU-Kandidat, und seit der Gründung der Republik 1923 seien Staat und Religion getrennt. "Die Menschen sind daran gewöhnt, daran ändert auch die islamische Regierung der AKP nichts."
Daran haben aber gerade etliche Türken erhebliche Zweifel. Vor allem die Opposition merkt derzeit bitter an, dass die arabischen Brüder und Schwestern sich nicht eine Regierung zum Vorbild nehmen sollten, die gerade dabei sei, die demokratische Kultur und die Herrschaft des Rechts zugunsten eines immer autokratischer regierenden Ministerpräsidenten zu ersetzen.
Doch viele Türken empfinden Genugtuung darüber, dass ihr Land, das sonst aus der EU oft seine Defizite vorgehalten bekommt, plötzlich als Vorbild gehandelt wird. In Fernsehdebatten über die Entwicklung in Ägypten ist den Beteiligten der Stolz darüber anzumerken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“