Retroeinschlag Tilman Rammstedt trickst mit Prosa: der Vom-Blog-zum-Buch-Roman „Morgen mehr“: Wenn deine Mutter sich in einer Hafenbar verprügeln lässt
Nein, gelesen habe ich es nicht. Also das Blog jetzt, das dem Buch vorangegangen war. Tilman Rammstedt, erfolgreicher Jungschriftsteller, Open-Mike- und Bachmannpreisträger, hat Anfang des Jahres pro Tag jeweils ein Kapitel ins Netz und damit zur Diskussion gestellt. Eine gut funktionierende Marketingstrategie, denn so war „Morgen mehr“ früh in aller Munde. Gleichzeitig etwas, das Leserschaft wie angehende Germanisten miteinband und nunmehr zur fachlichen Überprüfung reizt, denn natürlich wäre es spannend, zu sehen, wie sehr sich das Werk auf dem Weg von der digitalen bis zur physischen Veröffentlichung, auf dem Weg vom Blog zum Buch verändert hat. Der Rezensent hier kann jedoch nur vom Buch ausgehen.
Rammstedts vierter Roman erzählt in gut lesbaren und kurzen Kapiteln von einem Ich, das sich um seine eigene Geburt bemüht. Es muss sich also um sein Schicksal, so scheint es, schon pränatal kümmern, denn seine Eltern sind am Tag seiner geplanten Empfängnis meilenweit voneinander entfernt. Sein Vater hat Liebeskummer wegen einer anderen und lässt sich von einem dahergelaufenen Kleinkriminellen in Frankfurt im Main versenken. Seine Mutter lebt in Trauer um ihre Zwillingsschwester und vögelt in Marseille mit einem melancholischen Franzosen. Dazu gibt es den Frankfurter Oberboss, Dr. Rolf, und seine drei Knallchargen, die sich auf die Suche nach einem mysteriösen Kofferinhalt machen, der seinerseits von einem frühreifen Schlaumeierkid im Alter von zwölf Jahren entführt worden ist.
Tilman Rammstedt hat sich eine schön schräge Grundkonstellation ausgedacht, die jetzt wie von selbst durch das Buch schlittert und allerlei Skurrilitäten erlebt. Es ist der alte Trick: Man sperre überhaupt nicht zueinander passende Charaktere in einen begrenzten Raum (hier ein VW Käfer, ein roter Mercedes und noch ein Auto), man lasse also drei bis acht Karikaturen aufeinander los, und schon hat man eine halbe Sitcom oder eben einen ganzen Roman. Der Rest ist lesebühnenerfahrene Schreibe, die nicht unbedingt auf Pointe aus ist, sondern das Lustige in den Zwischenräumen, in den Sätzen, in den Formulierungen selbst sucht.
Natürlich erinnert das ein wenig an „Tschick“ – deutsche Roadnovel mit Retroeinschlag („Morgen mehr“ spielt im Jahr 1972). Viel Komik, viel Gesellschaftsstudie, viel Abenteuer. Obwohl, Mittleres fällt aus, denn vom Jahr 1972 weiß der Erzähler nach eigenem Bekunden genauso wenig wie das Jahr 1972 von sich selbst. Was schade ist.
Die zweite Referenz, die sich auftut, ist „Zazie in der Metro“ von Raymond Queneau. Wer es noch nicht kennt: Unbedingt lesen, firmiert hier schon seit Längerem unter „Lieblingsbuch“. Mag billig sein, mit diesem experimentellen Unterhaltungsroman aus den späten fünfziger Jahren zu kommen, nur weil „Morgen mehr“ am Ende auch in Paris spielt. In Paris spielt, komisch ist, mit Klischees arbeitet, überzeichnet. Andere denken da an „Die fabelhafte Welt der Amélie“.
Und ja, das sind hohe Messlatten, die „Morgen mehr“ leider nicht erreicht. Vielleicht fehlte dem Autor dafür die Zeit, heutzutage muss ja alles schnell gehen, da zählt jede Sekunde (richtig, um die Zeit und die Einführung der Schaltsekunde geht es in dem Buch auch). Aber leider: Die Figuren bleiben oberflächlich, die Tricks der Prosa sind zu oft durchschaubar, und der Witz ist bestimmt intelligenter als alles, was unter den Namen Frank Goosen oder Horst Evers veröffentlicht wurde – und trotzdem selten von Gehalt.
Denn richtig toll ist eigentlich nur eine Szene. In der erzählt wird, wie die künftige Mutter des Erzählers, die trauernde Zwillingsschwester, sich in einer Marseiller Hafenbar verprügeln lässt, weil ihre Schwester Eva das auf ihre To-do-Liste gesetzt hat: sich in einer Hafenbar verprügeln lassen. Das geht natürlich nicht einfach so. Und wie das aber gehen muss mit Schulfranzösisch im Gepäck, das liest sich sehr großartig.
Das Ende spielt dann auf der obersten Aussichtsplattform des Eiffelturms. Der Junge hat ein Schaf dort hinauf geritten. Alles etwas unwahrscheinlich, und man fragt sich: Und der Sinn des Ganzen? Egal. René Hamann
Tilman Rammstedt: „Morgen mehr“. Hanser Verlag, München 2016. 224 Seiten, 20 Euro
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