Reportage: "Wir sind Mutter, Tochter und Kollegin"
Azize und Gabriele Gün Tank sind Mutter und Tochter. Und beide machen den gleichen Job: als Integrationsbeauftragte von Charlottenburg beziehungsweise Schöneberg. Doch jede hat ihren eigenen Stil.
Als Gabriele Gün Tank noch zur Grundschule ging, wollte sie einmal ziemlich spät abends "Die Kinder von Nr. 67" sehen, einen Film über Jugendliche im Nazi-Deutschland. Sie war schon mit sieben Jahren recht politisch unterwegs und sie hatte das Buch gelesen. Ihr Vater verbot ihr, so lange aufzubleiben. Da rief sie immer wieder im Büro der Ausländerbeauftragten von Charlottenburg an, bei ihrer Mutter. Wenn ihr Vater das verbiete, meinte die, dann sei da nichts zu machen. "Du bist vielleicht eine tolle Frau", sagte das Mädchen, "erzählst mir ständig etwas von Frauenrechten, und dann solidarisierst du dich mit einem Mann."
Gabriele Gün Tank hat ihrer Mutter schon sehr früh aufmerksam zugehört - und ihre eigenen Schlüsse gezogen. Azize Tank ließ ihre Tochter von Anfang an teilhaben, wenn sie sich mit Frauengruppen traf. Da streifte die kleine Gün durch die Sitzreihen und sog das Diskussionsklima auf. Auch später, als Azize Tank als Ausländerbeauftragte im Einsatz war, hat sie ihre Tochter manchmal mitgenommen.
Seit November macht die 32 Jahre alte Gabriele Gün Tank denselben Job wie ihre Mutter. Sie ist Integrationsbeauftragte von Tempelhof-Schöneberg. Ihre Mutter kümmert sich in Charlottenburg-Wilmersdorf um Migrantenangelegenheiten - seit 17 Jahren schon. Sie hatte ihrer Gabriele Gün eigentlich davon abgeraten, sich für den Job zu bewerben. Es ist keine normale Arbeit, es ist eher eine Lebensaufgabe. Man entkommt dem nur ganz schwer, nicht nur wegen all der Termine an Abenden und Wochenenden.
Wenn Azize Tank irgendwo auf eine Geburtstagsfeier eingeladen ist, fragen die Leute manchmal, was sie so beruflich macht. Migrantenbeauftragte, sagt sie dann, und sofort hat jeder ein Anliegen, etwas, das er gern mit ihr klären würde. "Du hast doch einen schönen Job", hat sie ihrer Tochter gesagt, einen mit Dienstschluss.
Gabriele Gün war wissenschaftliche Mitarbeiterin bei einer SPD-Bundestagsabgeordneten. Jetzt hat sie ihr neues Büro bezogen und lernt die Leute im Rathaus kennen. "So ein Bezirk ist ein Apparat für sich", sagt sie. Das klingt kein bisschen spöttisch, sondern vor allem interessiert. Sie wird herausfinden, wer hinter all diesen Bürotüren sitzt und wo sie anklopfen muss, um sich für ihre Klientel stark zu machen. Auch ihre Mutter hat sie in den ersten Wochen des Jobs schon dienstlich gesehen. Bei einem Treffen aller Bezirksbeauftragten. Sie, die Jüngste unter ihnen, achtet jetzt darauf, streng zwischen den Rollen zu trennen: "Sie ist meine Mutter - und sie ist meine Kollegin. Wenn ich abends mit meiner Mutter zusammensitze, dann hat die Arbeit da nichts zu suchen." Ist Azize Tank ihr ein Vorbild? "Nein", sagt sie, "ich möchte nicht unbedingt Vorbilder haben." Sie ist selbst stark genug, so ist sie erzogen worden.
Azize und Gabriele Gün Tank sehen sich schon wegen ihrer langen Locken ähnlich. Bei der einen sind sie noch braun, bei der anderen schon weiß. Beide tragen Jeans. Es ist kein ganz gewöhnliches Mutter-Tochter-Verhältnis, das sich zwischen ihnen entwickelt hat. Azize sei recht früh zur Freundin, zur Vertrauten geworden, sagt Gabriele Gün Tank. Das lag wahrscheinlich auch daran, dass sie zwar wenig Zeit hatte, die aber sehr intensiv mit ihren zwei Töchtern verbrachte. Sie wollte immer, dass ihre Kinder wissen: "Die Mutter kämpft für etwas, das notwendig ist." Für die Rechte der Frauen und der Migranten.
Auch ihre Tochter hat irgendwann damit begonnen. Sie wollte eigentlich Sozialarbeiterin werden, hat dann doch Journalismus in Istanbul studiert und in Charlottenburg die "Bösen Mädchen" gegründet, ein deutsch-türkisches Bandprojekt, bei dem sich die Mitglieder auch politisch auseinandersetzen - mit Fremdenfeindlichkeit etwa. Dafür hat die Gruppe gerade einen Preis bekommen. Gabriele Gün Tank hat das, was sie Interkulturalität nennt, schon immer beschäftigt.
Ihre Mutter stammte aus der Türkei, ihr Vater aus Deutschland. Was bedeutete das für sie? Azize Tank hat sich dafür ein Bild ausgedacht. Was schmeckst du, wenn du Schokoladeneis isst, hat sie gefragt. Schokolade. Und bei Vanille? Vanille. Und wenn du beides auf einmal probierst? Beides. Sie war ein gemischtes Eis, das fand Gabriele Gün Tank gut.
Es war trotzdem nicht immer einfach.
Auf dem Gymnasium hat sie oft erbittert mit Lehrern gestritten, wenn die sich dafür einsetzten, kriminelle Jugendliche ohne deutsche Staatsbürgerschaft auszuweisen. Sie glaubt immer noch, dass das "die Jugendlichen unserer Gesellschaft" sind und dass Bildung ihnen helfen muss, mehr Ausbildungsplätze. Dafür will sie sich vor allem einsetzen. Obwohl zurzeit viele über das Thema sprechen, hat sie den Eindruck, die Betriebe, die Verantwortlichen müssten noch mehr sensibilisiert werden.
Auch Azize Tank hat recht schnell gemerkt, wie wichtig Wissen, wie wichtig die Sprache sein kann. Sie war 22 Jahre alt, als sie mit neun anderen Türkinnen in dem kleinen oberpfälzischen Ort Wurst ankam. Sie wollte dort in der Porzellanfabrik Geld verdienen und anschließend europäische Länder bereisen, die Welt kennen lernen, vor allem Frankreich mochte sie aus der Ferne schon. Dann hörte sie zum ersten Mal die Worte: Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis. Sie trafen auf ihre Reiseträume wie eine Abrissbirne auf eine bunte Hauswand.
Am ersten Tag sollten sich die neuen Arbeiterinnen in einer Reihe aufstellen. Vor ihnen standen die verschiedenen Abteilungsleiter der Porzellanfabrik. Azize Tank lächelte alle an - und einer lächelte zurück. Zu dem ging sie hin, bei ihm wollte sie arbeiten. Der Chef sagte, sie solle wieder zu den anderen. Sie verstand ihn nicht, aber sie wusste, was er meinte. Sie blieb stehen, doch sie konnte nichts sagen, sich nicht erklären. In dem Augenblick beschloss sie, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen, und fing sofort damit an. Ein Jahr später ging sie nach Berlin und war entsetzt: Die Leute sprachen dort ein ganz anderes Deutsch als die Oberpfälzer. Es sind all diese Erlebnisse, die sie für ihre Arbeit wahrscheinlich noch mehr qualifizieren als ihr Studium, das sie zur Sozialarbeiterin gemacht hat.
Sprache sieht sie nach wie vor als etwas, woran man arbeiten muss. Das fängt schon bei den Job-Bezeichnungen an. Die Mutter hat vor 17 Jahren als Ausländerbeauftragte angefangen und ist jetzt Migrantenbeauftrage. Die Tochter beginnt als Integrationsbeauftragte. Worte prägen die Sicht auf Dinge. Azize Tank wird böse, wenn jemand sie nach einem Türkei-Urlaub fragt, wie es denn in der "Heimat" war. Sie ist doch in Berlin zu Hause! Eine Freundin hat ihr kürzlich erzählt, wie ihre Tochter sie im Supermarkt anfuhr: Sprich nicht Türkisch mit mir, sonst wissen die gleich, dass wir Türken sind. "Das ist traurig", sagt Azize Tank. Ihren Job erlebt sie oft als Kampf, als einen um Anerkennung, einen gegen Ablehnung.
In Charlottenburg will eine Gemeinde eine Moschee bauen. Die Initiative Pro Deutschland wehrt sich dagegen. Azize Tank wiederum hat sich öffentlich sehr deutlich gegen die Moschee-Gegner gewandt. Sie ist selbst nicht gläubig, aber sie glaubt an die Demokratie, sie glaubt daran, dass es Gegenstimmen geben muss. Dialoge.
Im Gegensatz zu ihrer Mutter, der Kämpferin mit dem warmen Lächeln, wirkt Gabriele Gün eher wie eine Diplomatin. Ihre Sätze sind manchmal nicht mehr die der Journalistin, die sich geweigert hat, nur Migrationsredakteurin zu sein, sondern sie klingen eher nach dem Politikbetrieb, in dem sie, die Parteilose, zuletzt gearbeitet hat. Entwicklungen, Prozesse. Sie spricht wie ihre Mutter von Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, aber es hört sich bei ihr mehr wie ein Job an, weniger wie ein Kampf. Wie ihr Nachname, der eigentlich ein deutscher ist, den es aber auch in der Türkei gibt, ist sie in beiden Ländern zu Hause, auch wenn Berlin ihre Heimat ist.
"Ich habe nie das Gefühl gehabt, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, sondern immer auf einem großen Sofa", so formuliert sie das. Trotzdem sieht sie die Flecken, die dieses Sofa hat. Dass möglichst viele sich darauf ähnlich wohl fühlen wie sie, daran will sie arbeiten. So lange wie ihre Mutter? Ihr Vertrag laufe bis 2011, sagt Gabriele Gün Tank. Sie kann sich durchaus auch ganz andere Dinge vorstellen. Ihre Vorgängerin, Emine Demirbüken, sitzt mittlerweile für die CDU im Abgeordnetenhaus. "Jetzt habe ich ja gerade erst angefangen", sagt Tank.
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