Reisebericht: Georgien fast forward
Im Westen ist Georgien ein weitgehend unbekanntes Land - daran ändern auch die vielen NGOs in der Kaukasusrepublik nichts.
Ob es die George-W.-Bush-Plakate vor den orientalischen Bädern noch gibt? Ob ich die Verkäufer am Markt gesehen habe, die Plastiksäcke für ein paar Cent verkaufen? Ob ich Guga getroffen habe, den Künstler, den jeder kennt? Jammerschade, wie die Holzhäuser verfallen, jammerschade! Was? Keine Kalaschnikow-Schüsse, keine Tamada-Tischreden und Saufgelage? Das kann doch nicht sein!
Gespräche mit Freunden, die ebenfalls in Georgien waren, geraten schnell in diese Mischung aus Kuriosität und Kalamität, die für unsere Augen über dem Land zu hängen scheint, ein Land, das man für die meisten anscheinend erst mal aus einem geografischen Knäuel entwirren muss, was zwar immer wieder von russischen Raketen auf unseren Bildschirmen erledigt wird, aber nur für einen Augenblick, danach taucht es gleich wieder ab. Irgendetwas Unklares scheint ihm anzuhaften, als tanzte ein Unruheherd ständig um es herum und durch es durch, ein Unruheherd, zu dem hier viele keine Verbindung herzustellen wissen und der mal Südossetien, mal Abchasien, mal Berg Karabach oder Tschetschenien heißt. Die wenigsten wissen, wo es genau liegt, und es ist ja auch schwer, das ein für alle Mal zu sagen, zumal Geografie eine relative Sache ist und zudem in politische und wirtschaftliche Verhältnisse eingespannt, mit denen sie sich verschiebt. Vorbei sind jedenfalls die Zeiten, in denen Bauern von Tiflis nach Moskau zum Markt geflogen sind oder deutsche Expats nach Ostberlin zum Friseur.
Dass dieses Land immer noch eine Art kulturelle Großkreuzung ist, auf der sich ehemals Osmanen, Perser, Griechen, Araber oder Russen begegneten, die Nahtstelle zwischen den Christentümern, den Islamismen und anderen Religionen, also eine ureuropäische Angelegenheit, mag uns irgendwo dämmern, doch lassen wir diese Begegnung sich lieber in anonymen Jahrhunderten abspielen als in der Gegenwart. Als Touristen suchen wir nach Kolchis und Frühchristentum, nach denen gleich Stalin und Schewardnadse kommen, und dann ist auch schon wieder Funkstille. So grob war denn auch meine Vorstellung, als mich die Einladung der georgisch-deutschen Gesellschaft zu den deutschsprachigen Dramatikertagen in Form eines Anrufes ihres Vorsitzenden, Gocha Gulelauri, erreichte.
"Ein wilder Hund" sei dieser, wurde mir gleich von einem Kollegen erzählt, der ihn vom Berliner Theatertreffen her kannte, Bühnenbildner und Künstler, der praktisch aus dem Nichts seine Symposien, Tagungen und Ausstellungen organisiert und sich überdies Deutsch beim Schafehüten im Kaukasus beigebracht habe. Diese Information startete dann gleich meine nächste Vorstellungsreihe von Bergvölkern im wilden Kaukasus, von Tuschen und Swanen, Chorgesang in einer malerischen Landschaft, die sich zu ihren Höhenmetern bekennt. Eine Zeitreise mindestens erwartete ich, und eine Zeitreise sollte ich auch bekommen, allerdings in die Gegenwart.
Wobei es sich um eine Gegenwart handelt, die, wie meist, auf Ungleichzeitigkeiten beruht, allerdings scheinen die georgischen sich im Fast-forward-Modus abzuspielen. Auf dies aufmerksam zu machen, ist die Aufgabe meines anderen Gastgebers, Lasha Bakradze, eines Allround-Intellektuellen, wie ich ihn bisher nur in Tiflis angetroffen habe. Von der Gründung des georgischen Filmarchivs über Redaktions- und Universitätstätigkeit, Autorschaft und seiner Arbeit als Filmschauspieler bei dem in Deutschland produzierenden Dito Tsintsadze ("Der Mann aus der Botschaft") bis zur Moderation jener Theatertage, zu denen ich geladen war, reicht sein Tätigkeitsbereich, weswegen er nicht nur Gott und die Welt in Tiflis kennt, sondern auch von einer Supermarktverkäuferin erkannt wird.
Lasha macht mich auf die neue Religiosität aufmerksam, die wie in anderen postsowjetischen Ländern hier aufgekommen ist, auf die neuen Fundamentalismen, die Gebäude wie die monströse neue Kathedrale am Hang eines Stadtberges hervorbringen, auf die ständigen Bekreuzigungsgesten der Menschen. Und er vollzieht geduldig jene Milchmädchenrechnungen mit, die gleich nach den ersten geografischen Entknäuelungsdiensten kommen: Wie viel kostet eine Wohnungsmiete? Und wie kommt die Kellnerin von ihrer billigeren Vorstadtwohnung, die ihr ganzes Entgelt verschlingt, zu ihrer täglichen Arbeit in eines der teuren Restaurants in der Innenstadt von Tiflis? Wie kann man überhaupt bei dem Ausmaß der fehlenden Mittel überleben?
Schnell stelle ich fest, die Milchmädchenrechnungen gehen hier nicht auf, es bleiben zwar keine Reste, dafür umso mehr Lücken, Leerstellen und fehlende Komponenten: Da steht dann der fanatische Brunnenbauaktivismus der Stadtregierung, der Bau der monströsen Heiligen-Georg-Statue vor dem Rathaus direkt neben dem Bankrott der ältesten Universität des Landes, dem Verfall der berühmten Holzhäuser. Auch soll der Wildwuchs der Immobilien, ihr Boom, nicht über die Schwierigkeiten, Investoren ins Land zu bekommen, hinwegtäuschen. Das zumindest erzählt gerade Tschaik, der englische Architekt mit Georgienambitionen. Wir sitzen in einem der neuen Restaurants der Stadt, die nach Aufbruch und beginnender "Prosperität für einige wenige" aussehen, und besprechen die Investitionslage. Er habe jedenfalls beschlossen, sein Immobilienprojekt selbst zu finanzieren. Und wirklich, es klingt ein wenig verrückt, verrückter vielleicht noch als das Projekt der Weberei, die er mit seiner Frau in den Swinging Sixties im vortouristischen Rhodos mit Erfolg aufgemacht hat.
Wie? Haben es die Chicago-Boys mit ihrem Katastrophenkapitalismus etwa noch nicht nach Georgien geschafft? Aber sicher, sie werden schon längst da sein, in Organisationen, die Know-how vermitteln, oder haben als Vertreter der Weltbank oder des IWF die Finger drin, die hinabreichen zu jenen Milchmädchenrechnungen über Kellnerinnen und Wohnungsmieten. Es sieht ja überhaupt so aus, als ob hauptsächlich NGO-Gelder ins Land flössen, schließt man von der Präsenz der unterschiedlichen Organisationen auf die Investitionslage. Aber das machen typischerweise Westler, die hier ohnehin vor allem eines tun: auf andere Westler treffen. So auch ich, denn am nächsten Morgen renne ich bei strömenden Regen in den Ethnologen Florian Mühlfried rein, der über "Staatsbürgerschaft von unten" im ostgeorgischen Hochgebirge forscht - "Was machen all die Westler da?", frage ich ihn. Er schlägt den Besuch in einem vegetarischen Schnellrestaurant vor, in dem wir eine Ethnologie besprechen, die den Blick auf die eigenen Leute richtet, quasi eine mit umgekehrtem Düsenantrieb.
Ich erzähle ihm von der ganzen Latte an 25-jährigen Deutschen und Esten, die ich gleich am ersten Abend auf einer Party kennen lernen durfte und die als NGO-Praktikanten und Praktikantinnen arbeiten, das heißt gewisse Basisarbeiten erledigen sollen, was hier seltsame Blüten treibt: Sie machen Museumspädagogik in verfallenden Museen, die ihre Mitarbeiter schlecht oder gar nicht mehr bezahlen, arbeiten ohne jegliche Sprachkenntnisse als Physiotherapeuten, bauen Business-for-Women ohne Business auf und wirkten alles in allem in jener Mischung aus Frust und Arroganz seltsam deplatziert.
Doch die Frage, was sie eigentlich da machen, wird besser nicht weiter beantwortet, sondern gleich unterbrochen von dem Ausruf des amerikanischen Soziologen, den Florian am nächsten Abend in eine Bar mitbringt: "I hate the NGOs!", stellt er sich vor und erzählt, er sei mal selbst Teil dieses eigenartigen quasireligiösen Milieus gewesen, das sich durch Tiflis und Sarajewo, durch Albanien und den Aserbaidschan gleichermaßen schiebt. Mehr noch, unterbricht er sich, eine weltweite Klasse, die mittlerweile entstanden und Ausdruck eines seltsamen Neokolonialismus ist. "Nun, ich weiß, warum ich sie hasse, aber warum hasst du sie?", schließt er seinen kurzen Monolog. Dass ich sie hassen würde, sei mir noch nicht bewusst gewesen, erwidere ich, ich wähnte mich noch eher ein paar Stufen davor, also bin mehr noch mit dem Entwickeln einer Kritik, die erst mal mit der Wahrnehmung des seltsamen Verhaltens des NGO-Kindergartens und des strukturellen Selbsterhaltungsstrebens von Organisationen beginnt, beschäftigt - "Also ganz am Anfang", unterbricht er mich. Er hat recht, denn dass es in den Aktivitäten der NGOs auf der einen Seite mehr um den eigenen Selbsterhalt geht und auf der anderen um eine politische Einmischung, die früher offen nationaler Natur war und jetzt verdeckt geschieht, wissen hier alle. Letzteres könne man bei dem "National Democratic Institute" sehen, das aus US-Geldern finanziert werde, so Florian, und nicht nur das, sie hätten ja auch das strategische Wissen vermittelt, das für das Zustandekommen der "Rosenrevolution" im Jahr 2003 so wichtig gewesen sei, die die alten sowjetbestimmten antidemokratischen Strukturen im Allgemeinen und Schewardnadse im Besonderen abschütteln wollte.
Aber es gibt ja nicht nur die komplett ausländischen NGOs, sondern auch die mit Partnerorganisationen im Land Zusammenarbeitenden und zu guter Letzt die rein georgischen, die ihre Gelder von woanders her beziehen, die Lasha besonders ärgerten. Sie machten, wenn überhaupt, nur das, was vom Westen finanziert werde, und nicht das, was das Land brauchte. Er erzählt von Umwelt-NGOs, deren Betreiberlisten er einmal in der Hand gehabt habe: dass das die reinsten Familienbetriebe seien. Das heißt, die Oma macht die eine NGO, die Tante die andere, die Enkelin die dritte - sie schreiben alle "wie früher" ihre Berichte, und das wars dann, sagt er und schlägt die Hände zusammen. Doch dem kritischen politischen Blick auf die Arbeit der NGOs, wie er im englischsprachigen Raum schon durch zahlreiche Buchpublikationen vertreten ist, aber kaum im deutschsprachigen (obwohl Deutschland mit Organisationen wie der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ, oder zahlreichen Stiftungen stark in dem Bereich vertreten ist), wäre ein ethnologischer hinzuzufügen, nur, wie das als schriftstellerisches Unternehmen beginnen? Tiflis würde sich mit seinem vielschichtigen Nebeneinanderher der unterschiedlichsten Organisationen auf kleinem Raum jedenfalls als Ausgangspunkt gut eignen.
"Reden wir von den Oligarchen", muss inzwischen jemand vorgeschlagen haben, vielleicht, um die etwas aufgescheuchte Westlerin zu beruhigen: Ob ich deren Villen in Tiflis schon wahrgenommen hätte? Beide, Patarkatsischwili, der gerade ein Medienimperium in Russland veräußert hat, und Iwanischwili, der sein Geld mit Kupfer gemacht haben soll und sich im Gegensatz zum Ersteren nie in den Medien zeige, besetzten außerordentliche Markierungen im Stadtbild. Iwanischwili platzierte sein Riesenufo auf den einen Stadtberg zwischen dem Fernsehturm, der nachts wie ein Christbaum auf Acid blinkt, und der großen Statue der "Mutter Georgiens" aus Sowjetzeiten, neben der auch der über und über mit Stofffetzen behangene Wunschbaum steht. Ein Erinnerungsort für das Loswerden des großen Bruderstaates, ein altes georgisches Lied, das immer noch weiterzugehen scheint.
Aber zurück zu Iwanischwili, der als veritabler Oligarch öffentlichen Raum für sich beansprucht, und zwar einen erheblichen Teil des hinten an sein Anwesen anschließenden botanischen Gartens, in den er schon mal seine Wächter schickt, um Besucher zu vertreiben - während Patarkatsischwili, der Medienmogul, das riesenhafte Sowjetgebäude, eine futuristische Riesenkirche für Hochzeiten und andere postsakrale Riten auf der anderen Seite der Stadt in Beschlag genommen hat, ein Gebäude, dem absolut keine Bewohnbarkeit anzusehen ist. Ich weiß nicht mehr, welcher von den beiden jedem Schauspieler der beiden großen Theater eine monatliche Apanage zahlt, damit diese überhaupt arbeiten können, und wer den Bau der riesigen Sameba-Kathedrale finanzierte - klar ist, dass die Mischung von Rübezahl-Erzählungen und feudalistischen Großmogulnberichten hier leider eine sehr banale Realität hat. "Du musst das aufschreiben", sage ich zu Lasha, "die Korruptionsgeschichten, die politischen Verwicklungen: du kannst das, du kennst die Leute, die Vorgänge." - Leicht gesagt, so von meiner Seite. So von seiner Seite sieht es sicher anders aus. Seine Reaktion roch ein wenig nach "Wen interessierts?".
Verständlich in einem Land, in dem die Verlagsbranche daniederliegt, eine Filmindustrie praktisch nicht mehr vorhanden ist, die größere Hälfte der Medien in Oligarchenhänden ist und man außerhalb Georgiens nicht so brennend daran interessiert zu sein scheint, wie es not täte. Doch jetzt gerade will er ohnehin lieber über Reisen sprechen, Reisen in den Iran, nach Aserbaidschan, nach Deutschland. Wie seltsam segregiert die Berliner doch sind, sie bleiben immer in ihren Gruppen, sagt er und lacht. Ein paar Monate später werde ich ihn im Berliner Segregationsnebel treffen und mich nach meinen ethnologischen Fortschritten fragen lassen und um eine ausreichende Antwort bemühen müssen. Ich fange besser mal an.
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