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ReiseMit dem Zug nach Heiligendamm

Ein Besuch im Kaiserbad Heiligendamm - Reisereportage unseres vietnamesischen Autors OOH HA

Bemerkenswert viel Fremdenführer kümmern sich um den Reisenden Bild: dpa

Kürzlich begegnete mir in unserem schönen Ho-Chi-Minh-Stadt der deutsche Journalist Dirk Sager, der auf einer langen Reise in unser schönes Land gekommen war. Mit dem Zug, von Berlin bis nach Saigon. Zugreportagen aus fremden Ländern sind in seiner Heimat gerade der Renner, erzählte er. Deutschland sei einfach das Land der Eisenbahnen. Aus vielen Spielzimmern und selbst aus dem deutschen Sprichwortschatz ("Räder müssen rollen für den Sieg") seien sie nicht wegzudenken. So entstand bei mir der Wunsch, dieses wunderbare Land und seine Leute auf einer Bahnreise zu erleben.

Doch wohin, wenn Schönheit an jedem Wegesrand liegt und man nicht so viel Reisegeld hat wie deutsche Fernsehreporter? Ich entschied mich für Berlin und die Ostseeküste, weil dies offenbar die kürzeste Verbindung zwischen Tradition und Moderne des deutschen Eisenbahnwesens ist. Von Berlin aus ist vor über hundert Jahren schon der deutsche Kaiser Wilhelm I. an die Ostsee zu den Kaiserbädern gereist. Auch nach Heiligendamm, über das er sagte: "Dieses ist meine Stadt, gebaut für die Ewigkeit, das schönste Seebad der Welt."

Der neue Berliner Hauptbahnhof, ein gigantischer Palast aus Glas und Stahl, ein Wind und Wetter trotzendes, beeindruckendes Zeugnis deutscher Wertarbeit, wimmelt von Menschen, als ich an einem Sonnabendmorgen dort ankomme. Es ist Anfang Juni, und genauso wie zu Kaisers Zeiten wollen offenbar viele Berliner raus an die See, um sich in den Kaiserbädern für ein Wochenende vom anstrengenden Arbeitsalltag in der boomenden Metropole zu erholen. Tausende Menschen strömen mit Rucksäcken und Zelten in den Bahnhofstempel, unter ihnen sind erstaunlich viele junge Leute. Wahrscheinlich verehren sie ihren alten Kaiser noch so sehr, dass sie auf seinen Spuren wandelnd regelrechte Pilgerfahrten zu den Kaiserbädern unternehmen. Es sind so viele Menschen, dass sogar ein Sonderzug nach Rostock, wo man umsteigen muss, eingesetzt wird. Der Zug ist sehr voll, besonders viele junge Leute sind unterwegs. Ja, die Deutschen scheinen das Bahnreisen wirklich zu lieben, wahrlich ein Volk auf Rädern. Eine Fahrt von Berlin nach Rostock kostet 33 Euro, was für vietnamesische Verhältnisse natürlich teuer ist, für die Deutschen aber billig, wenn man bedenkt, dass eine Konzertkarte für die auch in Vietnam bekannte Musikgruppe Rolling Stones das Vierfache kostet. Wenn es rollt, ist den Deutschen eben nichts zu teuer.

Doch nicht alle Berliner scheinen das so zu sehen. Ein unfreundlicher junger Mann, der vor mir in den schönen Doppelstockwaggon einsteigt, brummelt, kaum dass er seinen Platz eingenommen hat: "S-Bahnzüge für 33 Euro. Die Arschlöcher verdienen sogar damit." Was er mit "damit" meint, weiß ich nicht, aber dafür nun, warum die Berliner in Deutschland auch die Meckerköppe genannt werden. Danach sagt der Mann nichts mehr, sondern liest in seinem Buch, wodurch ihm die herrliche Landschaft entgeht, die an uns vorüberzieht. Wunderschöne Häuser, aber auch komische Windmühlen, vor denen Rinder im Gras liegen. Wahrscheinlich sind es Bullen, denn dieses Wort fällt immer wieder bei den Reisenden, sogar wenn sie die uniformierten Herren in den Bahnhöfen sehen, die ich für Fremdenführer halte.

In Deutschland sind Ordnung und Sicherheit Werte, die man gern auch dem Besucher aus der Fremde mit Stolz präsentiert.

Dass die Deutschen nichtsdestotrotz ein fröhliches, lockeres Völkchen sind, bei dem man nicht nur während einer Fußball-WM zu Gast bei Freunden ist, ist davon unbenommen. Die Stimmung in unserem Waggon gleicht fast der auf der berühmten Fanmeile, auch wegen des babylonischen Sprachengewirrs durch die vielen Touristen aus aller Herren Länder. Ausgelassenes Treiben herrscht in den Gängen, durch die süßlicher Duft und Musikklänge wabern. Gemütlich sitzen die Reisenden zusammen, trinken "Sternburg"-Bier und lauschen deutschen Liedern aus früheren Zeiten. Eine der Musikgruppen heißt Tonsteine und Scherben oder so, wie mir mein Nachbar sagt. Namen haben die Deutschen ... Ungewöhnlich ist auch die Kleindung einiger Fahrgäste, manche haben Totenköpfe auf ihren T-Shirts, andere tragen Inschriften auf ihren Jacken ("Abschaum erwache"), vermutlich Mitglieder eines dieser Vereine, von denen es in Deutschland so viele gibt wie hübsche kleine Ortschaften, von denen immer mehr an unserem Fenster vorüberziehen. Und jedes Mal bietet sich das gleiche Bild, wenn unser Zug in einem Bahnhof Station macht: Leute und "Bullen" schauen uns sehnsüchtig nach, wenn wir weiterfahren. Zu gern würden sie wohl mitkommen, verraten ihre Blicke. Aber es gibt in diesem reichen Land eben auch einige Menschen, die am Wochenende wohl leider arbeiten müssen.

In Rostock angekommen, empfangen uns bemerkenswert viele Uniformierte - eifrige Fremdenführer -, die den Reisenden den weiteren Weg weisen. Vor dem Bahnhof herrscht Volksfeststimmung. Spontan entschließe auch ich mich, mir erst mal Rostock anzuschauen. Oh ja, Deutschland ist wirklich ein tolles Land, und jetzt verstehen ich auch die Worte des amtierenden deutschen Kaisers Franz, die während der Fußball-WM bis in unser Land drangen: Um Deutschlands Schönheit zu sehen, muss man es vom Hubschrauber aus erleben. Die Deutschen hören auf ihren Kaiser. Kaum dass ich aus der Bahnhofshalle trat, sah ich bereits einen Helikopter über unseren Köpfen kreisen. Ein glückliches Völkchen, das sich so so wunderschöne Feste leisten kann.

Aus dem Vietnamesischen übersetzt von Gunner Leue

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