: Reichtum allein reicht nicht
Die antiken Römer liebten das Geld – wurden aber trotzdem keine Kapitalisten. Warum?
■ ist taz-Wirtschaftskorrespondentin
■ Dieser Text stammt aus ihrem neuen Buch „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Westend).
■ Das Buch reicht vom antiken Rom bis zur Eurokrise. Einige der Themen: warum die Großkonzerne herrschen, die Globalisierung keine Gefahr darstellt, Geld noch nie knapp war, Derivate uralt sind und die Wall Street zu mächtig wurde.
Das antike Rom ist ein Rätsel. Nie wieder war ein europäisches Reich so groß wie das römische Imperium – und trotzdem stagnierte die Wirtschaft. Im Rückblick ist dies seltsam. Warum erlebten nicht schon die Römer eine „industrielle Revolution“? Warum setzte das exponentielle Wachstum erst viele Jahrhunderte später ein, nämlich ab etwa 1760?
Diese Frage lässt die Historiker nicht los, denn sie nutzen das antike Rom als Spiegel: Wenn man versteht, warum die Römer nicht zu Kapitalisten wurden, dann versteht man auch, was den Kapitalismus heute treibt.
An potentiellen Kunden für einen römischen Kapitalismus hätte es nicht gefehlt. Im antiken Rom ballten sich mehr als eine Million Menschen; Alexandria und Antiochia hatten jeweils rund 300.000 Einwohner. Auch war das römische Reich bereits eine „Marktwirtschaft“, wenn man darunter versteht, dass überall Märkte existierten und schwunghafter Handel betrieben wurde. Viele Kaufleute und Händler waren so reich, dass sie sich große Grabmäler errichten konnten, die noch heute von ihrem Vermögen künden. Kapitalmangel erklärt also nicht, warum die Römer nicht zu Kapitalisten wurden.
Auch das nötige Wissen besaßen sie. So galt reichsweit ein kodifiziertes Privatrecht, das uns bis heute prägt, weil es in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1900 eingegangen ist. Zudem existierte eine differenzierte Arbeitsteilung: Das Lateinische verzeichnet über 500 Ausdrücke für verschiedene Gewerbe, und in den diversen Manufakturen für Keramik, Baustoffe, Textilien oder Glas wurde serielle Massenware hergestellt. Berühmt ist etwa die „terra sigillata“, eine rote Keramik, die aus Arezzo kam. Sie wurde in solchen Mengen produziert, dass sie in jedes römische Kaff vordrang und heute selbst kleinste Provinzmuseen in Süddeutschland ziert.
Vor allem ein Detail hat die Technikhistoriker immer wieder erstaunt: Die Römer kannten bereits die Dampfkraft, ohne die im 19. Jahrhundert die Industrialisierung nicht denkbar gewesen wäre. Aber anders als ihre Nachfahren wussten die Römer mit dieser Energiequelle nichts anzufangen – und nutzten sie als Spielzeug.
Auch eine recht leistungsfähige Geldwirtschaft existierte in der Antike. Es gab Banken, die Geldeinlagen annahmen, Hypotheken gewährten und Zinsen berechneten. Selbst der bargeldlose Zahlungsverkehr war bekannt. Bereits im dritten Jahrhundert v. Chr. wurde im ptolemäischen Ägypten mit Überweisungen gezahlt. Auch die Römer fanden später, dass es sich anbot, staatliche Ausgaben und Einnahmen in den Provinzen zu saldieren und bargeldlos abzuwickeln, um die Menge der Münzen zu reduzieren, die man über Land transportieren musste.
Und bessere Menschen waren die Römer auch nicht. Sie waren durchaus darauf aus, ihr Geld zu mehren. In den Ruinen von Pompeji fanden sich Graffiti, die so sinnige Sprüche wie „salve lucrum“ (es lebe der Gewinn) oder „lucrum gaudium“ (Gewinn macht Freude) verewigt haben. Aber Gewinnstreben allein erzeugt offenbar noch keinen Kapitalismus – was also war anders in Rom?
Die bisher beste Antwort stammt von Moses I. Finley, einem der wichtigsten Althistoriker des 20. Jahrhunderts. Er verstand es virtuos, das Schweigen der antiken Quellen zu deuten. So fiel ihm als Erstem auf, dass in den alten Texten niemals von einem Investitionskredit die Rede ist. Griechen und Römern war das Konzept völlig fremd, dass man ein Darlehen aufnimmt, um mit diesem Geld die Effizienz der Produktion zu erhöhen. Den reichen Senatoren kam es nicht in den Sinn, ihre Einkommen zu steigern, indem sie gezielt die Kosten auf ihren Landgütern senkten.
Erhellend ist ein Brief, der von Plinius dem Jüngeren erhalten ist. Plinius lebte von 61/62 bis 113/115 n. Chr. und stammte aus einer der wichtigsten Familien Roms. In diesem Schreiben berichtet er über ein Landgut in Umbrien, das zu einem Schnäppchenpreis zu haben wäre, weil es durch schlechtes Management heruntergewirtschaftet sei. Plinius fragt sich nun, ob er das Gut kaufen soll, das direkt neben seinen eigenen Ländereien liegt. Auch moderne Landwirte neigen dazu, ihre Flächen zu vergrößern. Wer zusammenhängende Äcker besitzt, kann Maschinen und Arbeitskräfte besser einsetzen. Doch genau dieser Gedanke fehlt bei Plinius völlig. Stattdessen geht er eher ästhetisch vor und preist vor allem die „Schönheit“ (pulchritudo), die sich daraus ergeben würde, beide Güter zu vereinen. Auch alltagspraktische Vorzüge sieht er: So könnte er beide Ländereien an einem Tag besuchen und müsste nur einen Aufseher beschäftigen. Zudem bräuchte er nur ein Herrenhaus für beide Güter, das den Ansprüchen eines Senators genügt. Ausdrücklich ist erwähnt, dass eine Jagdausrüstung ebenfalls reichen würde und er keine zweite bräuchte. Effizienz ist Plinius also nicht fremd, doch will er beim Konsum und seinen Freitzeitvergnügen sparen. Über die Produktion auf seinen Latifundien denkt er nicht weiter nach.
Das Gut sollte stolze drei Millionen Sesterzen kosten, aber Plinius sah kein Problem, diese Summe aufzubringen, wie er in seinem Brief versichert. „Es wird nicht schwierig sein zu leihen. Außerdem kann ich immer Geld von meiner Schwiegermutter haben, deren Schatulle ich genauso freigiebig nutzen kann wie meine eigene.“ Es fehlte also weder an Kapital noch an Krediten.
Aus der Antike sind diverse Darlehensverträge überliefert, doch entweder finanzierten sie den Fernhandel oder es wurden Konsumentenkredite vergeben. Man erwarb Villen wie Plinius, kaufte sich politische Ämter oder stattete die Töchter mit einer Mitgift aus. Auch Notkredite gab es, vor allem für die Kleinbauern, wenn etwa die Ernte ausgefallen war und die Zeit bis zum nächsten Sommer überbrückt werden musste. Aber es fehlte der Unternehmenskredit – weil niemand wie ein moderner Unternehmer dachte. Griechen und Römer wollten zwar Gewinn machen, doch diese Profite erwirtschafteten sie sehr traditionell: Sie beuteten Sklaven aus oder beteiligten sich am lukrativen Fernhandel.
Über diesen Drang zum schnellen Geld machten sich schon römische Autoren lustig. In seinem Gastmahl des Trimalchio schildert der Satiriker Petronius, wie dieser Trimalchio zu seinem immensen Vermögen gekommen war, obwohl er einst als freigelassener Sklave begonnen hatte. Prahlend erläutert Trimalchio seinen Gästen, „mit einer einzigen Fahrt habe ich zehn Millionen zusammengehamstert“. Dabei waren die Handelsgüter aus antiker Sicht noch nicht einmal spektakulär. Trimalchio hatte nur „Wein, Speck, Bohnen, Parfüm, Sklavenware“ eingekauft und später weiterverhökert.
Fast alle Kulturen kannten den gewinnträchtigen Fernhandel, bei dem die Preisdifferenz zwischen verschiedenen Orten ausgenutzt wird. Doch damit entsteht noch kein dauerhaftes Wachstum. Die Wirtschaftsleistung kann nur stetig zunehmen, wenn die Produktivität der Arbeitskraft steigt. Daher muss man in technische Verbesserungen investieren, wenn man Wachstum will. Doch einen derartigen Aufwand hatte Roms kleine Oberschicht nicht nötig. Sie war so reich, dass sie ihren Reichtum nicht noch weiter steigern musste. Ihre immensen Latifundien warfen immer ein fürstliches Einkommen ab, selbst wenn die Güter schlecht bewirtschaftet wurden.
Zudem sahen die reichen Römer ihre Güter nur selten. Sie verstanden sich nicht als Landwirte, sondern waren Rentiers, die ein Luxusleben in der Stadt führten und nur gelegentlich aufs Land reisten, um ihre Aufseher zu kontrollieren. Ihre Hauptsorge war, dass die Angestellten nicht ehrlich sein und einen Teil der Einkünfte in die eigene Tasche abzweigen könnten. „Dies ist die Sicht eines Polizisten, nicht eines Unternehmers“, kommentiert Finley.
Während also die Reichen zu reich waren, um in eine bessere Technik zu investieren – war der große Rest zu arm. Die meisten Bauern hatten so wenig Land, dass es noch nicht einmal reichte, um die Familie zu ernähren. Sie mussten sich bei den benachbarten Großgrundbesitzern verdingen, die ihnen nur Niedrigstlöhne zahlten. Und damit schloss sich der Kreis. Die antiken Römer und Griechen wurden nicht zu Kapitalisten, weil die Arbeitskraft zu billig war.
Auch wenn es Neoliberale nicht glauben wollen: Der Kapitalismus wird bis heute durch hohe Löhne angetrieben, nicht durch niedrige. Daher war es auch kein Zufall, dass die Industrialisierung ausgerechnet in England einsetzte, denn dort waren die Löhne im 18. Jahrhundert die höchsten der Welt. Nur deswegen rentierte es sich erstmals in der Weltgeschichte, das technische Wissen zu nutzen, das seit der Antike existierte. Maschinen waren plötzlich billiger als Menschen, und damit setzte das Wachstum ein. Aber dies ist ein anderes Kapitel.