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Rehabilitiert Gorbatschow Bucharin?

■ Der sowjetische Historiker Roy Medwedjew zur Debatte um den hingerichteten Bolschewikenführer Der 1888 geborene Nikolaj Ivanovic Bucharin wurde am 14. März 1938 wegen „konterrevolutionärer Betätigung und Spionage“ hingerichtet. Bucharin hatte sich schon 1906 als Student den Bolschewiki angeschlossen, gehörte bei Lenins Tod zum Führungskern der Partei. Er opponierte heftig gegen die gewalttätige Kollektivierung der Landwirtschaft, die Stalin über Hunderttausende von Leichen gehen ließ.

Nach fast dreißig Jahren wird hier in Moskau wieder von einer möglichen Rehabilitierung Bucharins gesprochen. In einem Lenin–Film des Regisseurs Michael Shatrov war Bucharin im sowjetischen Fernsehen zu sehen. Kurz darauf sprach Gorbatschow auf dem Plenum des Zentralkomitees davon, daß die „weißen Flecken in der Geschichte der Sowjetunion beseitigt“ werden müßten. Glauben Sie, daß der Chef der bolschewistischen „Rechten“, Bucharin, wirklich bald rehabiliert werden wird? Eine sehr komplexe Frage, eine sehr schwierige Entscheidung für die Führung der Partei. Bucharin war Mitglied des Politbüros und er war - so hieß es in dem Prozeß, in dem er verurteilt wurde - Chef einer terroristischen antirevolutionären Organisation. Man kann ihn nicht rehabilitieren, ohne alle zu rehabilitieren, die seiner Strömung angehörten, und das heißt, man muß zugeben, daß all die Prozesse damals gefälscht worden waren. Man müßte auch Männer wie Sinowjew, Kamenew und Ry kow rehabilitieren. Ich glaube, es gibt einen ganz aktuellen Grund, den Fall Bucharin wieder zu eröffnen. Gorbatschow und seine Leute übernahmen das Land in einem Zustand äußerster Erschöpfung seiner materiellen und intellektuellen Kapazitäten. Jetzt ist überdeutlich geworden, daß das stalinische Modell jede Entwicklung unmöglich ma ht. Zweifellos war Bucharins Linie eine klare Alternative zu der Stalins. Vor allem, was das Verhältnis zu den Bauern anging. Viele sowjetische Historiker sind heute der Auffassung, 1929 habe die Partei vor zwei Möglichkeiten gestanden. Entweder gewaltsame Kollektivierung, blutige Eliminierung der Kulaken und jedes kapitalistischen Erbes im Land - das war die Linie Stalins und Trotzkis - oder aber Bucharins Programm eines schrittweisen Aufbaus des Sozialismus, in dem der Kleinbesitz erhalten bleibt und der Einfluß der Kulaken auf die Konkurrenz zwischen Staat und Privaten beschränkt bleibt. Also Lenins Politik der Neuen Ökonomischen Politik (NEP). Diese zweite Linie wird heute von einer wachsenden Zahl auch sowjetischer Historiker als die einzig richtige betrachtet. Das andere Programm, das dann von Stalin durchgesetzt wurde, sei dagegen verantwortlich für die Folgen, die es in unserem heutigen System - das gerade radikal reformiert wird - beobachtet werden können. Daher rührt heute unser Interesse an Bucharin. Es gibt heute also nicht nur die politischen Voraussetzungen für eine Rehabilitierung Bucharins, sondern Sie sind der Auffassung, die Partei selbst mache sich Bucharins Linie von 1929 zu eigen? Ja, in gewissem Maße ist es so. Es wird immer wichtiger für uns, sozialistische Methoden mit Elementen von privatem Unternehmertum und dem der Kooperativen zu verbinden. Aber der für die Landwirtschaft zuständige Parteisekretär, Nikonow, erklärte, die sich außerhalb der Sowchosen bildenden Bauerngemeinschaften lebten nie lange. Es gelänge ihnen nicht, sich ausreichend mit Saatgut, Dünger und Traktoren zu versorgen. Nach einer Weile flüchteten sie immer, um nicht Hungers zu sterben, zurück in die Sowchose. Weil es keine richtigen Bauern mehr gibt. Die Sowchosenarbeiter von heute haben keine Beziehung mehr zur Erde. Der Bauer arbeitet und erhält einen Lohn, nicht mehr und nicht weniger als jeder Arbeiter in der Fabrik. Aber die Produktivität seiner Arbeit ist extrem niedrig. Natürlich muß dem Bauern die Liebe zum Land wiedergegeben werden und er muß wieder Eigentümer der Frucht seiner Arbeit werden. Darum ist es unumgänglich, daß Elemente individuellen und familiären Eigentums wieder eingeführt werden. Wieder ganz zu Bucharins Theorie zurückzugehen, ist unmöglich. Es gibt die Bauern von damals nicht mehr und die ganze Situation hat sich geändert. Aber ein Teil der alten NEP–Politik ist auch heute unbedingt erforderlich. Darum beginnt man damit, sie wieder einzuführen. Sie glauben also wirklich an eine unmittelbar bevorstehende Rehabilitierung Bucharins? Ja. Ich nehme an, daß in diesem Jahr, dem 60. Jahrestag der Oktoberrevolution, das Problem der Rehabilitation - auch der Bucharins - gelöst werden wird. Auch weil die neue Führungsgruppe die schwierigen historischen und ideologischen Knoten der Vergangenheit definitiv lösen will. Wir entnahmen dieses Gespräch, das Fiammett Cucurnia in Moskau mit dem sowjetischen Historiker führte, der italienischen Tageszeitung La Repubblica vom 5.3. 87

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