Regisseur über Lesbenfilm: „Fleisch, Emotion und Befreiung“
Große Liebe, herber Verlust: Abdellatif Kechiche, der Regisseur von „Blau ist eine warme Farbe“, über Körperlichkeit, gefährliche Berufe und Homophobie.
taz: Herr Kechiche, Ihr Film erzählt eine heftige Liebesgeschichte zwischen der Schülerin Adèle und Emma, die auf dem Sprung in eine Künstlerinnenkarriere ist. Ist das in Ihren Augen eine Amour fou? Was ist das überhaupt, die große Freiheit oder eine Krankheit?
Abdellatif Kechiche: Liebe ist für mich immer unerklärlich und verrückt. Die Gefühle sind so stark, dass man sein äußeres Verhalten kaum noch beherrscht. Liebe wirft die Ordnung des Verstandes über Bord. Man spürt diesen Zustand der Verrücktheit vor allem dann intensiv, wenn es zum Bruch kommt. Man durchleidet ihn wie eine Krankheit, und wenn wir geheilt sind, fragen wir uns, wie uns so etwas überhaupt zustoßen konnte.
Also interessiert Sie die Liebe als Liebeswahn?
Nein. Sie fragen nach der Liebe und bringen das Thema Verrücktheit ein. Aber es wäre ungehörig, Liebe so zu definieren. Ich will gar keine Erklärung suchen. Um mich her ist so viel vitale Begeisterung, sich in die Verliebtheit fallen zu lassen. Ich habe gestandene Männer von solidem Charakter gesehen, die mit höchster Intensität leiden, wenn der Riss geschieht. Das ist keine „Krankheit der Jugend“. Vielleicht können manche mit der Zeit vernünftiger damit umgehen, aber ehrlich gesagt, habe ich nicht den Eindruck.
In einer Szene führt Emma Adèle ins Museum, wo sie eine Sammlung historischer Gemälde zum Motiv der nackten Badenden betrachten. Was hat Ihnen dieses Vorspiel zu der ersten sexuellen Begegnung der Frauen bedeutet? Sie eignen sich da ziemlich souverän männlich besetzte Objekte der Begierde an.
Das war keine intellektuelle Entscheidung. Ich fand diese Bilder im Museum von Lille einfach schön. Sie lösen eine erotische Stimmung aus, sie antworteten gewissermaßen auf das, was ich ausdrücken wollte. Lust auf Körperlichkeit spielt da eine Rolle, auch der Kontext der Natur. Fleisch und Leib, Emotion und Befreiung, Metamorphose und Natur.
Jahrgang 1960, ist ein französischer Filmemacher tunesischer Herkunft. Für sein jüngstes Werk "Blau ist eine warme Farbe" hat er im Mai in Cannes die Goldene Palme bekommen. Als Grundlage dient die gleichnamige Graphic Novel von Julie Maroh. Eine ausführliche Besprechung des Films findet sich in der taz vom 13. Dezember.
Zu Kechiches Filmen zählen "Lesquive" (2003), der eine Schulklasse bei der Inszenierung eines Stücks von Marivaux begleitet, "Couscous mit Fisch" (2007), der einer Großfamilie bei ihren Irrungen, Wirrungen und Festessen zusieht, und schließlich "Vénus noire" (2010), der von Saartje Baartman erzählt, einer Frau aus Südafrika, die Anfang des 19. Jahrhunderts auf europäischen Jahrmärkten ausgestellt wurde.
Sehen Sie Adèle und Emma in den Liebesszenen Ihres Films ähnlich? Die beiden atmen, seufzen, bewegen sich ineinander, aber wirken wie perfekt ausgeleuchtete glatte Skulpturen.
Ich wollte nichts Perfektes zeigen, im Gegenteil. Ich hatte keine ästhetische Wertung im Sinn. Was Sie bemerken, scheint mir jedenfalls einem bestimmten Kanon zu entsprechen. Es ging mir um zwei menschliche Wesen, die sich körperlich lieben.
Normen, nach denen junge Frauen ihre Schönheit konstruieren, sind ja Realität. Emmas blaue Frisur ist ungewöhnlich, ein rasierter Körper auch?
Ich glaube, es gibt keine Vorschriften, wie man die Liebesleidenschaft in einem Film darstellt. Was ich tatsächlich vermeiden wollte, war eine Begegnung zwischen vollkommen gegensätzlichen Figuren, etwa einem dicken und dünnen oder schwarzen und asiatischen Gegensatzpaar. Und zwei Männer fand ich schon zu sehr dem Kanon entsprechend. Mein Hauptinteresse galt den Gesichtern und Gefühlen, und auch da ging es mir nicht in erster Linie um Typen wie die Künstlerin und die Proletarierin, die eine sensibel, die andere intellektuell.
Adèle entwickelt sich im Lauf der Geschichte zu Emmas Muse und zur Hausfrau. Ist der Rückfall in traditionelle Rollen bittere Ironie?
Ich beschreibe die Schwierigkeit, eine wirkliche Liebesgeschichte zu entwickeln. Nach der Leidenschaft muss etwas bleiben, eine andere Liebe. Die Unmöglichkeit einer Kontinuität zwischen ihnen habe ich eher versucht, an den sozialen Bedingungen festzumachen. Die physische Anziehung widersteht nicht ihrem Verfall. Aber da erlaubt der soziale Unterschied zwischen Emma und Adèle ihnen nicht wirklich, zusammen zu bleiben.
Sie zeigen Emma als Schülerin und später als Vorschullehrerin in einer selbstverständlich multikulturellen Kultur. Die Jugendlichen hören die unterschiedlichste Musik, gehen aber gemeinsam für bessere Bildungsbedingungen auf die Straße. Ist das Ihr Traum?
Ich denke, das ist in Frankreich die Realität, vor allem in einigen Städten. Diese Frage nach der ethnischen Herkunft stellt sich unter den Jugendlichen nicht mehr. Sie erleben in jeder Schulklasse eine Melange. Ich wollte in meinem Film auf etwas anderes hinaus. Die Konflikte zwischen den Liebenden zeigen sich nicht auf der Ebene ethnischer Herkunft, sondern auf der Ebene der sozialen Klassen.
Die Kunststudentin zählen Sie zur Bourgeoisie?
Vielleicht ist es das, was ich sagen wollte: Emmas Welt ist die Welt der Intellektuellen – künstlerisch, ökonomisch und auch, was ihre Nähe zum Kino angeht. Auf Emmas Party zeigt sich, dass Adèle nicht über die Codes verfügt, um sich zurechtzufinden und sicher zu fühlen.
Sie zeigen Ihre Protagonistin als sehr starke Frau. Ihr verzweifelter Liebeskummer scheint ihre tägliche Arbeit nicht zu beeinträchtigen. Setzen Sie Ihrer Rolle als Vorschullehrerin ein Denkmal?
Sie ist stark, frei und mutig, oder? Sie stellt sich den Schwierigkeiten, auf die sie stößt, trotz ihrer inneren Zerrissenheit.
Sie rücken den Schauspielerinnen mit der Kamera auf den Leib. Der Film lebt von ihrer Präsenz. Das Als-ob scheint aufgelöst, sie verkörpern, statt zu spielen. Sie machen mich als Zuschauerin zur Komplizin.
Die Idee, Schauspielern beim Spielen zuzusehen, ist doch eine konventionelle kinematografische Vision. In meiner Vorstellung von dramatischer Kunst fusionieren die Figur und der Schauspieler. Spielen bedeutet wirkliche Inkarnation und eine totale Implikation. Ich möchte, dass der Schauspieler lebt und nicht das Leben imitiert. Er muss die Maske lüften und seine Rolle ins Leben tragen. Das ist aufregend, das lässt den Schauspieler wachsen.
Ist der Schauspieler die Beute des Regisseurs?
Nein, gefährlich für die Psyche ist das nur, wenn er sich gegen den Arbeitsansatz stemmt und nicht mitmacht. Deshalb bin ich sehr genau, wenn ich jemanden engagiere. Ich sage vorher, welchen Einsatz ich verlange, damit das Handwerk Kunst wird. Wenn Sie auf die Gefahr anspielen, bleibt mir nur zu wiederholen, was ich auf die Kritik an meinem Arbeitsstil antwortete, die die Darstellerin der Emma, Léa Seydoux, geäußert hat. Es gibt gefährlichere Metiers, die psychologisch und körperlich weitaus mehr fordern als der Beruf des Schauspielers. Aber ich gebe zu, er ist nicht immer angenehm.
Was sind die gefährlichen Berufe, die Sie meinen?
Die Leute, die morgens aufstehen und mit der Metro zur Arbeit fahren, um am Ende einen miserablen Lohn zu kassieren. Denken Sie an Adèles Beruf, eine Erzieherin ist wirklich gefordert. Da ist es deplatziert, vom gefährlichen Beruf der Schauspieler zu reden. Ich komme aus Adèles sozialer Klasse und weiß, wovon ich rede. Denken Sie an die Leute, die uns hier im Hotel die Zimmer putzen. Wenn man auf der Tour Zeuge solcher Bedingungen wird, bereitet es mir Probleme, vom angeblich gefährlichen Schauspielerberuf zu reden.
Ihr Film kommt zu einer Zeit ins Kino, in der die populistische Rechte in Frankreich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe polemisiert. Ist Ihre lesbische Liebesgeschichte ein Statement dagegen?
Ich war zur Zeit der Dreharbeiten vollkommen überrascht von dem reaktionären Geist, der plötzlich aufkam. Frankreich ist für mich Aufklärung und Avantgarde in Sachen Freiheit. Diese Reaktion gegen die Freiheit hat mich sehr irritiert. Ich sehe in dieser Welle auch einen Appell, sich mit den Gründen auseinanderzusetzen, warum Frankreich auf die Seite der Gegner der Freiheit schwenkt.
Andererseits wollte ich mich nicht davon einengen lassen. Es war mir sehr wichtig, das Thema Homosexualität im Film vergessen zu machen. Die Zuschauer sollen sich mit den Figuren identifizieren, vollkommen unabhängig von ihrer sexuellen Präferenz. Ich hatte Angst, mich zu frontal diesem Thema zu stellen, weil das dem Film hätte schaden können. Militanz hätte unseren Film auf die Community der Interessierten beschränkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Syrien nach Assad
„Feiert mit uns!“