Rechnitz-Diskussion in Zürich: Diabolische Brillanz

Im Schauspielhaus Zürich wurde über Schweizer NS-Lasten debattiert - "Liegt Rechnitz in der Schweiz?"

Am Schauspielhaus Zürich wird momentan das Drama "Der Würgeengel" von Elfriede Jelinek aufgeführt. Seinen Hintergrund bildet ein weitgehend unaufgeklärtes Verbrechen vom März 1945 an der österreichisch-ungarischen Grenze (vgl. taz 16. 1. 2010). Damals wurden rund 200 arbeitsunfähige ungarische Zwangsarbeiter ermordet. Das Verbrechen fand in unmittelbarer Nähe des Schlosses Rechnitz statt, das damals das Ehepaar Batthyány-Thyssen bewohnte und in dem auch die örtliche Gestapo untergebracht war. Der Mord geschah während eines Gefolgschaftsfestes, zu dem die örtlichen Nationalsozialisten und die Schlossherren geladen hatten, was komplexe Fragen der Mitwisserschaft, Mittäterschaft, Mitschuld und Mitverantwortung sowohl des Ehepaars Batthyány-Thyssen wie der Rechnitzer Bevölkerung aufwirft. Die deutschen Filmemacher Margarete Heinrich und Eduard Erne rollten als Erste den Fall "Rechnitz" in ihrem Dokumentarfilm "Totschweigen" 1994 auf - ohne große Resonanz. Die erfolgte erst dreizehn Jahre später auf die Recherchen des englischen Journalisten David R. L. Litchfield. Jetzt bemächtigte sich auch die Boulevardpresse des Themas. 2008 schließlich wurde Elfriede Jelineks Stück "Der Würgeengel" in München uraufgeführt.

Der Anlass zu einer Podiumsdiskussion am Zürcher Schauspielhaus war nicht nur das Jelinek-Stück, sondern der Artikel des Journalisten Sacha Batthyany über seine Großtante und Rechnitzer Schlossherrin Margit im "Magazin" des Zürcher Tages-Anzeigers sowie ein Essay des Historikers und Journalisten Jürg Schoch über das ausgesprochen seltsame Schweizer Einbürgerungsverfahren des Ehepaars Batthyány-Thyssen, das 1970 im dritten Anlauf mit einem positiven Bescheid endete.

Wegen der Verbindung des Falles "Rechnitz-Batthyány-Thyssen" mit der Schweiz stand die Diskussion unter dem provokativen Titel "Liegt Rechnitz in der Schweiz?" Unter Leitung des Schauspielhaus-Dramaturgen Roland Koberg und von Katharina Holländer, Vertreterin einer jüdischen Kulturstiftung, diskutierten Sacha Batthyany, Jürg Schoch, Eduard Erne sowie Leonhard Koppelmann, der Regisseur der Zürcher Aufführung. Der Veranstaltungstitel spielt auf einen Essay von Adolf Muschg an: "Liegt Auschwitz in der Schweiz?" Muschgs Frage bezog sich auf die Rolle der Schweizer Banken nach 1933 und deren Umgang mit den "nachrichtenlosen Vermögen" nach 1945, aber auch auf die offizielle schweizerische Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen. Bei Muschg wie im Stück Jelineks geht es nicht um die Rekonstruktion des Geschehenen, sondern um die "Hilflosigkeit der Nachgeborenen gegenüber Monstrosität" und um die adäquate "Form des Erinnerns", wie Erne bemerkte. Wie kann man Opfern von Verbrechen ihre Würde zurückgeben, und wie entkommt man der "ritualisierten Erinnerungskultur" (Jelinek)?

Für den Journalisten Sacha Batthyany und den Regisseur Koppelmann bestand und besteht in Österreich wie in der Schweiz der vorherrschende Umgang mit der monströsen Geschichte in Schweigen und Verdrängen. Auf den Artikel, der es durchbrach, reagierte Batthyanys Familie distanziert. Die Familie wusste nichts und will keine "alten Geister" wecken. Das von Erne beschriebene Totschweigen der Morde durch die Rechnitzer Bevölkerung funktionierte genauso in der Familie Batthyány-Thyssen. Deren "diabolische Brillanz" (Sacha Batthyany über seine Großtante) wirkte einschüchternd und verbot Nachfragen. Um solches Totschweigen drehen sich auch die beiden wichtigsten Dramen der Schweizer Literatur nach 1945: Frischs "Andorra" und Dürrenmatts "Besuch der alten Dame".

Unklar ist - so Jürg Schoch -, warum die Schweizer Behörden nicht energisch nachfragten, obwohl sie seit 1946 wussten, dass das Ehepaar Batthyány-Thyssen mit Rechnitz und den Morden an Juden irgendwie zu tun hatte und dass es den beiden mutmaßlichen Haupttätern wahrscheinlich zur Flucht verholfen hatte - zuerst in die Schweiz, dann nach Südamerika bzw. Südafrika. Schoch hält die Haltung vornehmer Distanz vieler Schweizer zur Geschichte für eine Form von Opportunismus, der den Weg ebnet für regelrechte "Vergangenheitslügen". Den Dramaturgen Roland Koberg, der aus Österreich stammt, irritiert das "Sich-gesund-Fühlen der Schweizer", seit er im Land lebt. Das Zürcher Publikum nahm diesen Befund ohne Widerspruch zur Kenntnis.

RUDOLF WALTHER

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.