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■ Reaktionen westlicher Linker auf die „Moskauer Wirren“Zwischen Pest und Cholera?

Von Anfang an waren im links- alternativen Milieu der BRD die Reaktionen auf Jelzins Dekret zur Parlamentsauflösung mit jenem Unbehagen untermischt, das der ungewohnte Gleichklang mit gewohnten Feinden noch jedesmal nach sich zieht. Wenn Kohl, Wörner und die Weltbank Jelzin unterstützen, dann ist kritische Distanz wohl das mindeste, wozu ein aufrechter Linker verpflichtet ist. Aber auch viele, die dem eingeschliffenen Reaktionsschema „der Freund meines Feindes ist mein Feind“ normalerweise nicht unterliegen, waren beunruhigt. Hatte Jelzin selbst nicht eingeräumt, die geltende Verfassung gebrochen zu haben, und hat er in der Vergangenheit nicht schon genug Beweise seiner Absicht geliefert, in Rußland ein diktatorisches Regime errichten zu wollen? Ging es am Ende nur um die Wahl zwischen Pest und Cholera?

Rossandas Gewißheiten

Im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo kein Deuter bereitsteht, unser Weltbild zurechtzurücken, ist die italienische Linke in einer glücklicheren Lage. In den Spalten von Il Manifesto versichern uns Rossana Rossanda und der renommierte Ost-Experte K.S. Karol, es gehe bei Jelzins Dekret der Parlamentsauflösung keineswegs um einen Befreiungsschlag der demokratischen Kräfte, sondern um Klassenkampf von oben. Der Oberste Sowjet bzw. der Volksdeputiertenkongreß sei nicht das beliebig manipulierbare Instrument der um ihre Privilegien kämpfenden realsozialistischen Nomenklatura. Vielmehr stelle er die letzte Bremse dar gegenüber dem Frontalangriff der Neoliberalen, deren Schocktherapie Richtung Kapitalismus die russische Wirtschaft in den Ruin und die Massen vollends ins Elend treiben würde. Entgegen der Desinformationskampagne westlicher Medien müsse zwischen den durchgedrehten Nationalbolschewisten samt ihren großrussischen Mythen und der gemäßigten, eigentlich sogar sozialdemokratisch eingefärbten Parlamentsmehrheit um Chasbulatow und Ruzkoi unterschieden werden. Deren Gegnerschaft zu Jelzin sei nicht von Interessen des Machterhalts motiviert, sondern Ausdruck eines alternativen, die Bedürfnisse der russischen Massen berücksichtigenden Programms. Falls Jelzin sich durchsetze, so Rossana Rossanda in ihrem Kommentar vom 22.9., werde sich „mit internationaler Billigung die schrankenlose Diktatur in einem schweigenden Land durchsetzen, das jedes Vertrauen (in Politiker und Institutionen, C.S.) verloren hat.“ Deshalb sei Jelzin „il distruttore“ – der Zerstörer.

Da zu erwarten ist, daß Argumentationen dieser Art mit der üblichen Zeitverschiebung auch Deutschland erreichen und dort auf zahlreiche geneigte Ohren treffen werden, ist es geboten, sich rechtzeitig mit ihnen auseinanderzusetzen. Ökonomisch geht es im Kern darum, ob die russische Regierung unter Gaidars Federführung tatsächlich eine Politik verfolgt, die den Privatsektor mästet, dem Staatssektor alle Subsidien entzieht, ihn damit in die Pleite treibt und die Massenarbeitslosigkeit und Massenverarmung in Kauf nimmt, wenn nur das oberste Ziel, die Währungsstabilität, erreicht wird.

Wenn es jemals eine solche Strategie gab, so ist sie auf alle Fälle abgesetzt. Seit Anfang des Jahres ist die russische Regierung auf die Linie einer „selektiven Strukturpolitik“ eingeschwenkt, die bedeutende Mittel aus dem Staatshaushalt für ausgewählte Betriebe aus fünf Bereichen bereitstellen will: dem Brennstoff- Energie-Komplex, der Nahrungsmittelversorgung, der Nachrichten- und Telekommunikation, der Konversion der Rüstungsindustrie und der wissenschaftlichen Spitzenforschung. Ziel ist, daß die ausgewählten Betriebe „Lokomotivenfunktion“ für die gesamte Volkswirtschaft entwickeln. Dieser Art von Strukturpolitik kann nicht der Vorwurf gemacht werden, sie überlasse die Staatsbetriebe in toto einem ungewissen Schicksal. Eher sind Zweifel angebracht, ob sich unter einem neuen Titel nicht das alte Subsidiensystem wieder auf ganze Industriezweige ausdehnen und damit alle Modernisierungseffekte zunichte machen wird.

Die angeblich über Leichen gehende Wirtschaftspolitik Tschernomyrdins (und jetzt Gaidars) hat – um den Preis einer wieder steil angestiegenen Inflation – Vorsicht bei der Sanierung des Staatshaushalts walten lassen und bis jetzt in der russischen Föderation eine Massenarbeitslosigkeit gerade verhindert. Es geht hier nicht um die innere Konsistenz dieser Politik, sondern um den Nachweis, daß sie eben nicht Schocktherapie im Sinne K.S. Karols praktiziert.

Während Jelzin und Tschernomyrdin den Forderungen der Interessenvertretung der Großbetriebe, der „Bürgerunion“, weitgehend entgegenkamen, rückten wichtige Politiker dieser Formation von den beiden Imperativen Markt und Demokratie ab. Alexander P. Wladislawiew, führendes Mitglied der „Bürgerunion“, bezeugte diese politische Verschiebung, als er bereits Ende 1992 schrieb, „die realistischste allgemeingesellschaftliche Idee ist heute die von der Wiedergeburt Rußlands als Großmacht“. Im Laufe des Jahres 1993 näherten sich die angeblich sozialdemokratischen Protagonisten der Opposition – Chasbulatow und Ruzkoi – immer mehr der Koalition nationalistisch-großrussischer und neobolschewistischer Kräfte an, die unter dem Namen „Nationale Befreiungsfront Rußlands“ zur Vernichtung der demokratischen Institutionen aufrufen und gegenüber den nichtrussischen Nationalitäten ein offen rassistisches Programm verfolgen. Im August dieses Jahres beschlossen die „Rotbraunen“, Chasbulatow bedingungslos zu unterstützen, und im gleichen Monat schlossen sie sich mit der „Bürgerunion“ zu einer „Bewegung für die Verteidigung des Parlamentarismus“ (gemeint ist der Volksdeputiertenkongreß) zusammen.

Chasbulatow veröffentlichte im Lauf des Jahres in den Organen der Rotbraunen zahlreiche Artikel, in denen er sich mühte, die Sowjets als aus der russischen Geschichte gewachsene Institution darzustellen, die gleiche Distanz zu den Traditionen des westlichen Verfassungsstaates wie zur russischen Autokratie wahre. Ruzkoi schloß sich diesem Tête-à-tête an; seine Ansprache zum 50. Jahrestag der Schlacht gegen die Nazi-Wehrmacht am Kursker Bogen gipfelte in der Forderung, die Sowjetunion wiederherzustellen.

Ruzkois wahres Gesicht

Es war deswegen keineswegs die Folge durchwachter Nächte und eines momentanen Blackouts, die den König-ohne-Land Ruzkoi dazu brachte, die buntscheckige Schar aus Faschisten, Alt- und Neobolschewisten, Söldnern und Afghanistan-Veteranen zum Sturm auf den Mossowjet und auf Ostankino anzustacheln. Das Auflösungsdekret von Jelzin nannte feste Termine für die Neuwahl des Parlaments und des Präsidenten auf der Basis eines ausgearbeiteten und konsultierten, freilich noch nicht verabschiedeten demokratischen Verfassungsentwurfs. Ruzkois Brandrede hingegen war nichts als das Fanal für den Bürgerkrieg, an dessen Ende im Falle des Sieges ein Monstrum geherrscht hätte, gezeugt aus der Verbindung des sowjetischen Realsozialismus und der großrussischen Autokratie. An dieser Perspektive sollten wir unsere Haltung zu den „russischen Wirren“ bestimmen. Christian Semler

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