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Raus aus der Stadt, rein ins Vergnügen

■ Hunderttausende BerlinerInnen nutzten gestern das schöne Wetter zum Ausflug in die nähere Umgebung / Großer Andrang auf Werder und Potsdam / Unter den Linden schoben sich die Menschenmassen

Mehrere hundertausend BerlinerInnen haben gestern bei sommerlichen Temperaturen weder für die 35-Stunden-Woche, noch für einen „revolutionären 1. Mai“ sondern für schönes Wetter, gute Laune und harte Währung demonstriert. Auf dem Boulevard Unter den Linden feierten Zehntausende gestern zwischen Auto-Scooter, Popcorn-Bude und westlicher Zigarettenreklame ihr Frühlingsfest. Der Ansturm auf das Berliner Umland erreichte gestern Rekordwerte. Während tausende Ostberliner auf ihre Datschen fuhren und die Füße hochlegten, drängelten sich unzählige westliche Touristen auf die Inselstadt in Werder. Auch die Fußgängerzone in Potsdams Altstadt platzte fast aus allen Nähten, vor dem Schloß Sanscoussi wimmelte es nur so vor BesucherInnen.

Während Berlin gestern Hunderttausende von Menschen ins Umland ausspuckte, hatte vor allem der Westteil der Stadt am Tag zuvor eine geradezu magnetische Wirkung auf die Region ausgeübt. Der Besucheransturm aus der DDR und Ost-Berlin war am Montag so stark wie seit Monaten nicht mehr gewesen. Viele DDR-Bürger hatten sich an diesem Tag frei genommen und den arbeitsfreien Montag zu einem Einkaufsbummel genutzt. In den Einkaufsstraßen herrschte dichtes Gedränge, am Ku'damm und am Bahnhof Zoo standen die Autos teilweise Stoßstange an Stoßstange. Einen vergleichbaren Ansturm auf West-Berlin hätte es zuletzt im November nach der Maueröffnung gegeben, erklärte ein Zollbeamter.

Verstärkt wurde das Chaos in der Westberliner City noch durch viele Besucher aus dem Bundesgebiet und dem Ausland. Sämtliche Hotels sind bis zur kommenden Woche ausgebucht. Auch Privatquartiere seien nicht mehr zu bekommen, teilte das Verkehrsamt mit.

Nicht nur Berlin war zu Anfang der Woche fest in der Hand von Besuchern aus der DDR. In vielen grenznahen Städten Schleswig-Holsteins, Niedersachsens und Bayerns kam der Verkehr wegen des Touristenansturms ebenfalls zum Stillstand. Allein in der bayrischen Stadt Hof schätzte die Polizei die Zahl der DDR-Besucher auf rund 60.000 . „Die Innenstadt ist schwarz vor Menschen“, meinte ein Sprecher.

Berlins alte Prachtallee Unter den Linden war gestern das Dorado westlicher Werbeträger. Ob „West“, „Camel“ oder „Coca Cola“, kaum ein Markenname fehlte im Angebot. Vor dem Palast der Republik herrschte zwischen Losbuden, Kinderkarussell und Auto-Scooter Jahrmarktsstimmung. Rias II beschallte mit seinen live-gesendeten Wunsch-Hits den Platz. Dort wünschte sich etwa die 15jährige Mandy aus Neuruppin beispielsweise „Just can't get enough“ von Depeche Mode und grüßte bei der Gelegenheit ihre Eltern, ihre Oma, die Klasse 10b der Karl -Liebknecht-Oberschule sowie „alle Grufties“. Vor dem altehrwürdigen Dom verkauften fliegende Händler Bananen, Stückpreis eine Ostmark. Meterlange Schlangen bildeten sich auch vor Popcorn-Ständen, die Vertreter eines volkseigenen Getränkebetriebes, die nur Johannisbeerwein und Ost-Schnaps im Angebot führten, blieben dagegen weitgehend ohne Kundschaft. Gezahlt werden konnte meistens in Ost- und Westmark - nur wenige Händler verlangten ausschließlich harte Währung.

Ein paar hundert Meter weiter feierte die PDS inmitten wehender DDR-Fahnen ihr Maifest auf dem Werderschen Markt. Sie war die einzige Partei, die den Feiertag dazu nutzte, Wahlkampf in der Ostberliner Innenstadt zu machen. Ansonsten verkündeten nur einige Plakate der SPD davon, das am kommenden Sonntag der Magistrat gewählt werden soll.

Während die meisten Berliner starken Gebrauch von der Reisefreiheit machten, forderte die neue Beweglichkeit am Wochenende aber auch die ersten Verkehrsopfer. Zwei Tote, 46 Verletzte und insgesamt 129 Einsätze der Verkehrspolizei sind die Unfallbilanz des Wochenendes im Bezirk Potsdam. Wie die Volkspolizei mitteilte, wurde bereits am Sonnabend ein einheimischer Kradfahrer in Wildau, Kreis Königs Wusterhausen, mit seinem Krad aus einer Kurve getragen, prallte gegen einen Baum und starb an der Unfallstelle.

Eine Westberlinerin kam, ebenfalls am Sonnabend, auf dem Berliner Ring im Kreis Zossen mit dem Pkw über den Mittelstreifen der Autobahn und stieß frontal mit einem Pkw aus Polen zusammen. Die Insassin aus dem polnischen Pkw wurde tödlich verletzt. Die Berlinerin und zwei polnische Bürger werden im Bezirkskrankenhaus Potsdam stationär versorgt. Der Fahrer des polnischen Pkw wurde mit dem Rettungshubschrauber zum Klinikum Steglitz transportiert.

ccm

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