: „Rauch der Debatte abgezogen“
■ Vogel und Kohl einigen sich über den Staatsvertrag / Volkskammerpräsidentin: Beitritt der DDR noch in diesem Jahr möglich / „Gewaltige Erfahrung“ der ersten gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse „Deutsche Einheit“ / Willi Hoss: Konsequenzen der Einheit weiter unklar
Bonn (afp/taz) - Die Bonner Regierungskoalition und die Sozialdemokraten wollen ihre Differenzen über den Staatsvertrag beilegen. Zwar schloß Bundeskanzler Helmut Kohl eine Neuverhandlung des Vertragswerkes am Mittwoch aus, ist aber bereit, einige SPD-Einwände zu berücksichtigen. Generös und von der Richtigkeit seiner politischen Linie überzeugt, lud Kohl den SPD-Chef Vogel für nächsten Dienstag zu einem Gespräch ein. Kohl strahlte am Mittwoch Zuversicht aus, daß die SPD dem Staatsvertrag zustimmen werde, wenn der „Rauch der parlamentarischen Debatte abgezogen“ sei. Vogel begrüßte seinerseits das Dialogangebot.
Wirkllich ernst nahm die Bundestagsdebatte vom Mittwoch wohl nur der Abgeordnete der Grünen, Willi Hoss. Er stellte fest, daß die tatsächlichen künftigen Belastungen, die durch die deutsche Einheit für jeden einzelnen entstehen werden, weiterhin verschwiegen würden: „Die Politiker der Regierung und der SPD schenken den Bürgern keinen reinen Wein ein, sie nehmen sie nicht ernst und denken in dieser Situation mehr daran, Wählerstimmen zu behalten oder hinzuzugewinnen, anstatt in einem offenen Dialog Klarheit zu schaffen.“
Noch während der ersten Lesung des Staatsvertrages im Bundestag signalisierten Regierung und SPD am Mittwoch trotz heftiger Wortgefechte ihre Bereitschaft, den Vertrag nicht scheitern zu lassen. Sprecher der Regierungskoalition gaben zu erkennen, daß in einzelnen Bereichen Verbesserungen zugunsten der DDR möglich seien. Die Sozialdemokraten machten ihre Zustimmung unter anderem von Strukturhilfen für DDR-Firmen und der Rückgabe unrechtmäßig erworbener Vermögen von Stasi, PDS und der alten Blockparteien an die Allgemeinheit abhängig. Die CDU/CSU-Fraktion wird am Montag und Dienstag im Reichstag in Berlin erstmals zusammen mit den Fraktionen der DDR-Allianzparteien tagen. Kohl und DDR -Ministerpräsident Lothar de Maiziere wollen daran teilnehmen.
Nach einem Bericht der 'Berliner Morgenpost‘ wollen Bonn und Ost-Berlin bereits am Montag und Dienstag über Nachbesserungen und Konkretisierungen des Staatsvertrages verhandeln. Dabei soll auch über Lösungen in Detailfragen beraten und sogar noch über die SPD-Forderungen hinausgegangen werden. Diese Informationen wurden von einem Bonner Regierungssprecher nicht bestätigt. Der 'Morgenpost‘ zufolge sind offenbar folgende Lösungen geplant, um der SPD entgegenzukommen: Zur Umweltunion wolle die DDR einen weitreichenden Gesetzentwurf zum Umweltschutz vorlegen. Unrechtmäßige Vermögen von Stasi, PDS und Blockparteien sollen mit der Währungsunion nicht begünstigt werden. Zur Absicherung der überlebensfähigen DDR-Betriebe beim Übergang auf die Marktwirtschaft solle es Strukturhilfen geben. Außerdem werde über steuerliche Schutzmaßnahmen für DDR -Betriebe und -Produkte verhandelt. Gedacht werde an eine bis Ende März 1991 befristete Sondersteuer in der DDR auf bestimmte bundesdeutsche Waren von elf bzw. später sechs Prozent sowie an die Beibehaltung der Steuervorteile für DDR -Lieferungen in die Bundesrepublik.
Ebenfalls am Mittwoch fand die erste gemeinsame Sitzung der Ausschüsse „Deutsche Einheit“ von Volkskammer und Bundestag in Bonn statt. Kohl sprach von einer „gewaltigen Erfahrung“. Die DDR-Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl erklärte: „Ich fühle mich wie in einem gesamtdeutschen Parlament.“ Sie könne sich vorstellen, daß die DDR noch in diesem Jahr nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik beitreten werde, wenn die Zusammenarbeit weiterhin so gut bleibe wie bisher.
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