: Rätsel ohne Lösung
Mit einer monographischen Ausstellung von Radikal-Bildhauer Abraham David Christian beweist das Neue Museum Weserburg in Bremen, dass eine gewisse Intoleranz im Bereich der Kunst unbedingt von Vorteil ist
aus Bremen Benno Schirrmeister
Das müsste man mal berühren. Einfach anfassen, um es zu glauben: Diese weißen Plastiken etwa. Wuchtig stehen sie nebeneinander, entfernte Verwandte der Steinfiguren von den Osterinseln. Ist das Marmor? Oder Granit? Von wegen: Aus Papier hat sie der Bildhauer Abraham David Christian geformt.
Zu sehen sind diese filigran-massiven Skulpturen derzeit in der monographischen Ausstellung Die Sprache des Menschen im Neuen Museum Weserburg zu Bremen. Genau genommen müsste man sie berühren dürfen; wie Musik, die dem Tänzer in die Beine geht, reizt ihr Anblick die Finger: Der Versuch, eine Sinnestäuschung zu begreifen.
Christian ist eine Rätselfigur des Kunstbetriebs: Die Voraussetzungen für den großen Ruhm wären gar nicht schlecht gewesen. 1972 etwa: da trug er mit Joseph Beuys in Kassel einen Boxkampf aus – nach wie vor eine der schönsten Documenta-Anekdoten. Außerdem verleiht ihre formale Strenge, ihre innere Harmonie den Skulpturen eine Anziehungskraft, die in der zeitgenössischen Kunst kein Pendant hat. Doch über die darob euphorisierten Expertenkreise hinaus ist der Bildhauer ein Unbekannter geblieben.
Ungerecht? Na, im Grunde ist Christian selbst schuld: Er entzieht sich. Immerhin, diesmal hat er den Abdruck eines Porträt-Fotos im Katalog gestattet. Aber sonst? Nicht besonders reißerisch jedenfalls seine Titel: „1995-96, Papier, Farbe“ heißen fünf gleich große bläuliche Objekte, und die meterhohen ineinander gedrillten Bronzeringe – ewigkeitsspiralende Unikate, deren Form beim Guss verbrennt – nennt er „1989/90, Bronze“. Lebensdaten? Wo denken Sie hin!
Das ist eher Welt- und Kunstauffassung als Koketterie: Die Plastiken sind gerade deshalb so vielsagend, weil sie so unbestimmt bleiben wie Traumsymbole. Sie erinnern an Kultstätten en miniature oder an Alltagsgegenstände, meist aber an ein Patchwork beider. Pagode, Vulva oder Brummkreisel? Falsch gefragt: Pagode und Kreisel. Und Vulva ohnehin. Doch die Ähnlichkeiten sind nur Marken des Unterschieds. Sie stoßen ein Denken an, das auf die Wurzeln von Kommunikation zielt: Seine Arbeit, so Christians Bekenntnis, „beginnt, wo die Möglichkeit der verbalen Äußerung endet: hinter der Sprache“. Abraham David Christian ist ein Radikaler.
Das macht die Werke intolerant. Unvorstellbar, sie mit Arbeiten von Zeitgenossen zu kombinieren: Einerseits, weil sie zu wenig über die sexy Wucht verfügen, die alle Blicke auf sich risse. Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Man muss nur einmal in Gedanken eine der Christian-Figuren neben eine Beuys-Installation stellen. Da gäbe es biographisch ja Berührpunkte. Aber der ganze Effekt wäre dahin – weil Beuys viel klarere Vorgaben macht. Der Horizont: Das ist der Schamanismus. Werkstoffe: Filz und Fett. Bei Christian hingegen lebt das Material von seiner inszenierten Widersprüchlichkeit. Und der Schamanismus ist höchstens mitgemeint, neben atztekischen und buddhistisischen Traditionen. Aber nie als Ersatz fürs Abendland. Bei ihm legt sich ums Kunst-Ding ein Heiligenschein. Um diese Werke zeigen zu können, heißt es darum im Kritischen Lexikon der Gegenwartskunst, müsse sich ein Museum von der „kunsthistorischen Bewahranstalt“ in ein „Künstlermuseum“ verwandeln.
Was für die meisten Museen ein Nachteil wäre, ist ein Vorteil für Bremen. Denn, zugegeben, rein baulich versprüht das Haus auf der Weser-Insel zwar den Charme einer mittelstädtischen Mietskaserne. Aber innen wird’s belebt von einem ebenso klugen wie einfachen Konzept: Die Weserburg ist ein Sammlermuseum. Europas erstes sogar, ein Prototyp. Kunstliebhaber zeigen hier Auszüge ihrer Schatzkammer. In der Präsentation bleiben ihre Vorlieben, die leidenschaftliche Struktur der Sammlungen erhalten. Was auch die Tendenz zum Künstlermuseum vorgibt: Denn Sammlungsschwerpunkte sind nicht selten Einzelfiguren.
Ein Rahmen, der es erlaubt, eine Schau diskret und doch entschieden von den übrigen Beständen abzuschotten. So hat Kurator Peter Friese mit dem Künstler selbst eine Etage ungewisser Gebilde eingerichtet, sie in Blickbeziehungen zueinander gesetzt. Ganz als wären diese merkwürdigen Gegenstände Zeichen füreinander, oder würden, in der richtigen Abfolge betrachtet, Aussagen ergeben: Ein noch zu entdeckender Kontinent und seine fremde Sprache. Die, ein universelles Spiel, gesprochen wird für alle und für keinen. Das ist die Kunst, ganz unbedingt.
Abraham David Christian: Die Sprache des Menschen, Neues Museum Weserburg, Bremen; bis 29. 2. 2004, Katalog: 28 Euro