RTL Exklusiv: Marco, der verlorene Sohn
Aus dem Knast in den Kapitalismus: Acht Monate saß der 17-jährige Marco in einem türkischen Gefängnis. Kaum wieder in Freiheit, verkauft er seine Geschichte exklusiv an RTL.
ISTANBUL taz Es hatte sich im Vorfeld ja angekündigt, doch der jetzt eingetretene Hype ist irgendwie schwer erklärbar. Da wird ein 17-Jähriger in der Türkei aus der U-Haft entlassen und ganz Deutschland ist im Marco-Fieber.
Schon Freitagnacht meldeten die Nachrichtenagenturen ungefähr im Stundentakt: "Marco aus der Haft entlassen", "Marco mit Flugzeug abgehoben", "Marco in Deutschland gelandet" und zuletzt: "Marco an unbekannten Ort verschwunden". Wenigstens das Mysterium dieses Verschwindens wurde bald aufgeklärt: Marco ist von RTL eingekauft, der Sender stellte das Privatflugzeug, mit dem er nach Hause kam, und Sonntagabend durfte die Nation dann exklusiv auf RTL dem glücklich zurückgekehrten Marco lauschen. Selbst beim letzten Papstbesuch gab es nicht so viele Verlautbarungen über den jeweiligen Stand des Anfluges. Es ist der Empfang, wie er gewöhnlich glücklich heimgekehrten Helden gewährt wird. Hat Deutschland also einen neuen Helden?
Alles spricht dafür. In Uelzen läuten die Kirchenglocken, und ein Autokorso mit Deutschlandfahnen braust durch die Stadt. Kanzlerin und Vizekanzler geben sich erleichtert, Pfarrer und Bischöfe schicken Dankgebete gen Himmel. Schon zuvor hatte die Kirchengemeinde jede Woche einen Marco-Gedenkgottesdienst abgehalten, Mahnwachen sorgten dafür, dass der "Gefangene von Antalya", wie der Spiegel titelte, nicht in Vergessenheit geriet. Dazu teils obskure Unterstützergruppen sorgten im Internet für einen ständigen Strom an Marco-Infos über das angebliche Martyrium des Jungen in türkischer Haft. "Marco psychisch am Ende" war da noch die am wenigsten alarmierende Meldung, "Psychofolter", "Selbstmordgefahr" etc. das eher gängige Vokabular. Bei all der Erregung ging völlig unter, worum es eigentlich ging.
Da hatte ein 13-jähriges Mädchen den 17-jährigen Jungen beschuldigt, sie sexuell missbraucht zu haben. Vielleicht stimmt dieser Vorwurf nicht, vielleicht steht Charlotte ja tatsächlich unter dem Druck ihrer Mutter, vielleicht wollte sie sich an Marco ja sogar rächen, weil dieser nicht konnte, wie Charlotte wollte, eine Theorie, die Marco selbst einmal zum Besten gab.
Vielleicht stimmen die Vorwürfe aber doch? Vielleicht ist der Jugendliche einfach im besoffenen Kopf in das Zimmer der Mädels eingedrungen und wollte sich mit ein bisschen Knutschen nicht zufriedengeben? Wer weiß das außer den Beteiligten? Dass in Deutschland aber, Jahre nachdem die Frauenbewegung mühsam durchgesetzt hat, dass Frauen oder Mädchen, die eine Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch beklagen, ernst genommen und nicht mehr als Zicken abgetan werden, heute niemand auch nur in Erwägung zieht, dass die Klage zu Recht besteht, ja dass jetzt so getan wird, als sei das künftige Ergebnis des Prozesses sowieso irrelevant, lässt darauf schließen, dass es in der Causa Marco um etwas ganz anderes geht.
Einmal unterstellt, Marco hätte nicht in der Türkei, sondern in England in U-Haft gesessen, das Gericht hätte geschlampt, das Verfahren sich in die Länge gezogen. Wäre der Marco-Rummel in diesem Fall vorstellbar? Natürlich nicht. Nur der Umstand, dass der Schüler in der Türkei im Knast saß, kann die Metamorphose eines der versuchten Vergewaltigung angeklagten Jugendlichen zum quasi politischen Gefangenen in Feindesland erklären. Ein Opfer der feindlichen islamischen Justiz, die unseren christlichen Jungen festhält. Dieser ganze Aufruhr soll durch eine achtmonatige U-Haft erklärt werden? Hunderte, nicht zuletzt in deutschen Abschiebeknästen, schmoren monatelang unter menschenunwürdigen Bedingungen nach obskuren Anschuldigungen im Gefängnis, und kein Bischof kräht danach. Zum Gefangenen des Jahres wird man nur, wenn man in Feindesland im Knast festgehalten wird. Platte Islamfeindlichkeit und dumpfer Türkenhass sind der Resonanzboden, auf der Marcos Heldengeschichte gediehen ist. Schlechte Nachrichten aus Deutschland.
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