RICO HAT SICH NUR GEWEHRT : Blaue Flecken
Oft bin ich nicht am S-Bahnhof Landsberger. Mir bleiben noch vier Minuten. Also genug Zeit, um mir einen Kaffee zu kaufen. Der Kiosk heißt hier nun Service Store. Aber vermutlich schon seit Ewigkeiten. Mir fallen ja Veränderungen immer erst Jahre später auf. Der Laden ist sogar doppelt besetzt. Während Mitarbeiter Nummer 1 mein Geld entgegennimmt und den Automaten mit den nötigen Instruktionen versorgt, betreibt Nummer 2 Kundenbindung.
„Iss überhaupt nich schlimm, wenn die Lehrerin bei dir angerufen hat“, erklärt der Mitarbeiter gerade einem etwa siebenjährigen Mädchen, das mit seinem Vater aufmerksam lauscht. „Wenn die andere dich ärgert, dann musst du dich wehren.“ Das Mädchen nickt, während der Mann fortfährt: „Ich habe mich früher auch immer gewehrt. Dit kannste wissen. Wenn eena frech wurde, da hat der sich mit dem Falschen angelegt. Ich hab mir nichts bieten lassen.“
Zum Glück braucht mein Kaffee noch einen Moment. Genug Zeit, um noch zu erfahren, woraus dieses Sich-nichts-bieten-Lassen bestand. „Da sind einige mit blauen Flecken nach Hause gegangen, wenn die sich mit mir angelegt haben.“ So viele können das nicht gewesen sein. Er ist so schmächtig wie ich. Schwer vorstellbar, dass es mehrere in seiner Klasse gab, denen er körperlich überlegen war. Vermutlich hat er sich vor allem gegen jüngere Schüler behauptet.
„Da waren meine Alten immer auf meiner Seite. Die haben den Lehrern gesagt: Der Rico, der hat sich nur gewehrt. Dit is sein Recht. Irgendwann sind die nich mehr ans Telefon gegangen, wenn die von der Schule angerufen haben.“ Der Vater des Mädchens murmelt zustimmend. Und ich seufze innerlich. Vielleicht hätten seine Eltern damals öfter ans Telefon gehen sollen. Vielleicht würde er dann mit über 50 nicht hier Zeitungen verkaufen müssen. Meine Bahn fährt ein. STEPHAN SERIN