RELIGION, ETHIK ETC. : Neue Grenzwächter
Seit einigen Tagen wirbt Günther Jauch für nichts weniger als die Freiheit. „Am 26. April ist der Tag der Freiheit“ heißt es auf riesigen Plakaten, die überall in Berlin aufgestellt sind. Auch Mariella Ahrens oder Tita von Hardenberg mahnen nachdrücklich: „In Berlin geht’s um die Freiheit.“ Wieso weiß man das außerhalb der Hauptstadt nicht? Und welche Freiheit ist gemeint?
Die Plakate gehören zur Kampagne der Initiative Pro Reli, die via Volksabstimmung herbeiführen will, dass Religion und Ethik in Berlin gleichgestellte Wahlpflichtfächer werden. Denn in Berlin muss seit zwei Jahren jede Schülerin und jeder Schüler ab der siebten Klasse das Fach Ethik belegen, der zusätzliche Besuch des Religionsunterrichts ist den Kindern freigestellt – und beileibe nicht jedes Christenkind nutzt dieses Zusatzangebot. Die Freiwilligkeit wurmt daher Pro Reli – eine überkonfessionelle Vereinigung, in der sich neben Christen auch Muslime und Juden engagieren –, man will entweder nur Ethik oder nur Religion unterrichten lassen.
Für die Kirchen ist bekanntlich weniger mehr. Anders gesagt: Das ethische Denken der eigenen Schäfchen soll keine Angelegenheit der per se verdächtigen Philosophie und des Grundgesetzes werden, sondern von den Kirchen kontrolliert bleiben.
Wenn die Initiative dennoch von „Freiheit“ redet, lügt sie nicht. „Ich fühle mich in Grenzen wohl“, schrieb der DDR-Lyriker Stefan Döring einst ironisch, den Kirchenvätern aber geht es tatsächlich so. Freiheit gibt es nach ihrem Verständnis nur in eng abgesteckten Grenzen, Grenzenlosigkeit wäre dagegen nur Chaos. Auch Philosophie kann Chaos bedeuten. Schon Kant hatte, obschon mit Moral beschäftigt, keinen Gott mehr nötig. Heute sind Fragen der Moral in den demokratischen Staaten vergesellschaftet, sie fußen lediglich auf religiösen Morallehren, die nun allerdings überkonfessionell und nach dem Gleichbehandlungsprinzip angewandt werden. Die Kirchen also sind, was die weltlichen Dinge angeht, überflüssig geworden. Und selbst in der Schule rauben ihnen nun die Berliner Senatoren die Kinder und säkularisieren deren Moralvorstellungen, indem sie die Kinder über die Grenzen ihrer kulturellen und konfessionellen Prägung hinausblicken lassen.
Es geht nämlich um nichts weniger als Hegemonie über die Moralvorstellungen. Und es ist dem deutschen Christen lieber, wenn der Imam oder der Rabbi seine Schäfchen das Seine lehrt, als dass auch nur ein Christenkind durch die säkularen Ethik von der eigenen Heilslehre abgebracht wird. Denn ein Kind ist in seiner Konfession und der daraus abzuleitenden, also „seiner Kultur“ für immer und ewig gefangen zu halten. Das nennen sie Freiheit. JÖRG SUNDERMEIER