RALPH BOLLMANN POLITIK VON OBEN : Merkel sucht den wahren Varus
Im Mai fährt die Kanzlerin in den Teutoburger Wald, um eine Niederlage der Römer vor zweitausend Jahren zu würdigen. Warum tut sie das?
Die Bundeskanzlerin wählt ihre Termine gewöhnlich mit Bedacht. Wenn sie eine Bildungsreise unternimmt oder Frauen ins Kanzleramt lädt, ist der taktische Nutzen selbst für ungeübte Beobachter leicht zu entschlüsseln. Das gilt auch für historische Anlässe. Oft und gerne spricht die CDU-Vorsitzende derzeit über die ruhmreiche Rolle ihrer Partei bei der Gründung der westdeutschen sowie der Auflösung der ostdeutschen Republik.
Heikler ist die Frage, mit welcher Absicht Angela Merkel am 15. Mai nach Detmold und ins niedersächsische Kalkriese fährt, um den Sieg der Germanen über römische Truppen vor zweitausend Jahren zu würdigen. Geschenkt, dass sie nicht wie Kaiser Wilhelm II. beim Jubiläum 1909 vom Sieg „unseres tapferen Vorfahren Hermann“ über die dekadenten Römer schwadronieren wird. Widersprüchliche Deutungsmöglichkeiten bleiben trotzdem genug.
Beginnen wir mit dem Unwahrscheinlichen. Als ostdeutsche Protestantin könnte sich Merkel ideell auf die Seite der Germanen schlagen. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise würde sie die Vorzüge subsidiärer Selbstversorgung am barbarischen Lagerfeuer preisen. Die fremdbestimmte Wohlstandsgesellschaft des globalisierten Imperiums führe am Ende in den verdienten Untergang. Damit könnte sie Nationalkonservative und Globalisierungskritiker gleichermaßen befriedigen, würde die Wirtschaftsliberalen aber verprellen. Schwierig.
Sie könnte die Himmelsrichtungen vertauschen und den römischen Herrschaftsanspruch mit der sowjetischen Machtausübung in Osteuropa vergleichen. Die Varusschlacht wäre eine Art antikes 1989, der Anfang vom Ende imperialer Vorherrschaft. Doch gäbe diese Interpretation für die Gegenwart nichts her, und sie wäre in jeder Hinsicht verquer. Mit dem buntscheckigen Imperium Romanum hat das triste Sowjetimperium nicht viel gemein.
Also müsste sich Merkel in der Tradition Konrad Adenauers auf die Seite des Westens schlagen und sich als ideelle Römerin präsentieren. Diese Sichtweise hat an Aktualität gewonnen, seit die Kanzlerin ihre Reise vor einem Jahr zugesagt hat. USA und Nato haben sich von der Idee verabschiedet, den Globus zu verwestlichen. Das antike Germanien entspräche demnach dem modernen Afghanistan. In einem Einsatz Out of Area haben sich die Römer in den Wäldern Germaniens aufgerieben – und sind am Ende zu dem Schluss gekommen, dass die unterentwickelte Region den Aufwand nicht lohnt.
Das Wahrscheinlichste aber ist, dass Merkel wie so oft eine Festlegung vermeidet. Schon die Reiseplanung deutet auf ein Offenhalten von Optionen hin: Indem Merkel sowohl nach Kalkriese als auch nach Detmold fährt, weicht sie zumindest der umstrittenen Frage nach der wahren Stätte des historischen Geschehens aus.
■ Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz Foto: Archiv