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Archiv-Artikel

Qumran-„Tempelrolle“ Eine gerollte Mona Lisa

Wie soll man es sagen, eigentlich ist das Exponat nicht besonders appetitlich: „Und wenn einer einen nächtlichen Samenerguss hat, darf er nicht betreten das ganze Heiligtum, bis er drei Tage vollendet hat“, heißt es mit allzu großer Deutlichkeit in der „Tempelrolle“, die ab heute im Martin-Gropius-Bau zu sehen ist – als Prunkstück der Ausstellung „Die Neuen Hebräer. 100 Jahre Kunst in Israel“. Dass diese Pergamentrolle, 20 Zentimeter hoch, 313 Zentimeter lang, trotz des meist wenig ansprechenden Textes in der deutschen Hauptstadt zu bewundern ist, kommt einer Sensation gleich. Ist diese Rolle doch gleichsam ein Nationalheiligtum Israels, das erstmals außerhalb des Landes bewundert werden kann – und nachher nie wieder, wie seine Gralshüter vom Israel-Museum in Jerusalem betonen.

Denn die „Tempelrolle“ ist Teil der Qumran-Schriften, die in den 40er-Jahren in Höhlen am Toten Meer entdeckt wurden. Dies war eine archäologische Sensation sondergleichen, obwohl von den fast 900 Textrollen, die ans Licht kamen, nur 11 erhalten waren.

Das nun in Berlin zu sehende Exponat ist eines dieser elf. Das uralte Schriftgut ist von besonderem Wert, da es die längste der Qumranrollen ist, geschrieben in einer hebräischen Schrift, die heute noch gelesen werden kann. Zusätzliche Bedeutung erhält die Rolle dadurch, dass sie wahrscheinlich geschrieben wurde vom Gründer der jüdischen Sekte, die sich in dieser kargen Felslandschaft bei Qumran vor mehr als 2.000 Jahren angesiedelt hat. Es ist ein Blick in das Denken des Volkes Israel zur Zeit Jesu – christlich gesprochen.

Tatsächlich war dieser Aspekt, ein Originalton aus der Epoche des Neuen Testaments, für die internationale Bekanntheit der Schriften von entscheidender Bedeutung, glaubte man doch so, dem christlichen Religionsgründer etwas näher zu kommen, weshalb die katholische Kirche seit Jahrzehnten die Qumran-Rollen mit auswertet. Für Israel aber sind die Qumran-Rollen von besonderer Wichtigkeit, weil sie den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land der Väter manifestieren. Es war deshalb kaum übertrieben, wenn James Snyder, der Direktor des Israel-Museums, davon sprach, die „Tempelrolle“ sei „unsere Mona Lisa“, bedeutsam für Israel, die ganze jüdische Welt, ja alle monotheistischen Religionen! Berlin dürfte für Religionswissenschaftler und Alttestamentler deshalb in den kommenden Monaten zum Mekka werden – zumal, das nur als Aperçu, die Rolle so verfasst ist, als spreche Gott selbst zum Leser, Jahwe, JHWH, um genau zu sein.

Nun wäre einzuwenden, dass eine Schriftrolle aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert nicht unbedingt in das Ausstellungsmotto „100 Jahre Kunst in Israel“ passt. Aber der Einwand trifft nur halb. Denn auch wenn die Chefkuratorin der Ausstellung, Doreet LeVitte Harten, betonte, dass es bei der Ausstellung um israelische, nicht jüdische Kunst geht – die religiösen Bezüge auch in der heutigen Kunst Israels sind nach einem kurzen Rundgang durch die Schau kaum zu übersehen. Wie anders bei einer Kunst aus einem Staat, der sich als jüdisch begründet begreift? Die „Tempelrolle“ liefert dazu auch entsprechende Textstellen, die fast wie eine zusätzliche Legitimation des Staates Israel interpretiert werden können: „Ich, JHWH“, heißt es da etwa, „wohne inmitten der Israeliten für immer und ewig.“ Oder: „Ein heiliges Volk bist du für JHWH, deinen Gott.“ Die „Tempelrolle“ vom Toten Meer ist deshalb mehr als nur ein wunderbares altes Stück aus Pergament. Für Juden, Christen und Muslime ist sie viel mehr.

PHILIPP GESSLER