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■ QuerspalteHer mit der Katastrophe!

„Da kam ick aus'm Haus und bin gleich auf'n Arsch gefallen“, spricht Volkes Stimme ins Mikrophon, und der Hörer vermag fast das glucksende Vergnügen des armen Opfers zu verspüren. Es ist immer das gleiche: Fast genüßlich zelebriert Berlin seine Zustände und macht mit masochistischer Lust aus einem seit Tagen angekündigten Frühlingseinbruch eine Katastrophe. Kaum gibt es ein wenig Glatteis auf den Straßen, glaubt man sich den existentialistischen Gewalten des Heideggerschen Geworfenseins in die Welt mit brutaler Wucht ausgesetzt. Da jauchzt das Unheil in den Schlagzeilen der Springer-Zeitungen auf. Die steile Karriere das Wortes „Blitz- Eis“ ist Ausdruck eines Bewußtseins, das mühelos die Assoziation spannt zum „Blitz-Krieg“, in dem sich die großstädtische Zivilisation mit den winterlichen Unbilden befindet. In solchen Zeiten der Not fühlen sich die Berliner wohl. Dem Opa wärmt's das Ostfront- erprobte Landserherz, bei den alten Hausfrauen wird das Hamster- Gen aus Blockadezeiten aktiviert. Der gewohnte Weg durch die Stadt, den Hunderttausende jeden Tag grauen Gesichts und fast schlafwandlerisch zurücklegen, wird zum aufrüttelnden Abenteuer. Zerrissen ist das Band der Anonymität; der Nachbar im Bus, den man sonst nicht mit dem Arsch anschaut, wird ein brüderlicher Nächster, nur weil der sich auch unfreiwillig auf den selben gesetzt hat. Wenn die Gewohnheit im Eis wegrutscht, brechen die Konventionen auf und das taube Herz: Je schlimmer es dem Berliner zusetzt, um so freundlicher wird er. Man erinnert sich an das Vollgefühl des Glücks, als im vergangenen Jahr nach einem Kurzschluß stundenlang die Stadt ohne Strom war und dafür der Funke der Solidarität die Stadt befeuerte. Masochistisch gab man sich im Mai dem ÖTV-Streik hin, der den öffentlichen Nahverkehr lahmlegte und aus der ganzen Stadt eine einzige Fahrgemeinschaft machte. Wie ein Süchtiger nach dem nächsten Schuß giert, lauert der Berliner auf den adrenalinhebenden Ausnahmezustand. Die Zahl der Blechschäden, die Tonnage ausgebrachten Quarzes, die Verspätungen der Busse – all dies wird zum Beleg der entronnenen Gefahr. Raus aus dem Blitz-Eis-Desaster, lautet deswegen der Ruf: Her mit der nächsten Katastrophe. Gerd Nowakowski

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