■ Querspalte: Lila und gelbe Iris
Darf ich an dieser Stelle noch einmal etwas Persönliches einflechten? Bevor mein Großvater starb, bestimmte er noch schnell auf einem kleinen Zettel, wer bei seiner Beerdigung den Hefekranz zu backen habe. Sein Wunsch ging in Erfüllung. Der Hefekranz schmeckte prima.
Großvater und Mitterrand sind sich nie begegnet, aber im Geiste müssen sie eng verwandt gewesen sein. Zumindest stimmten sie in der Auffassung überein, auch nach ihrem Tod noch die Zügel fest in der Hand zu halten. Monsieur le Président, der immer schon die großen Gesten liebte, hatte selbstverständlich auch eine genaue Vorstellung davon, wie es bei seiner eigenen Beerdigung zuzugehen habe. Wo kämen wir schließlich hin, wenn wir unser Begräbnis den Hinterbliebenen überließen?
Also verfügte der Immer-alles-Besserwissi der Franzosen in seinem Testament: als Blumen bitte nur gelbe und violette Iris, als Statisten bitte „anonymes Volk“. Ja, so schrieb er es wirklich auf: „anonymes Volk“. Das meinte er ernst, und so wurde es gemacht: Oui, mon général, zu Befehl! Nun, daß dem Sozialisten Mitterrand im Laufe seiner Amtszeit irgend etwas durcheinandergeraten war, ließ sich schon zu seinen Lebzeiten erahnen. Aber daß es so schlimm um ihn stand? Nein, das wußte man dann doch nicht.
Zwar hatten scharfe Beobachter das napoleonische Leuchten in seinen Augen immer wieder einmal gesehen, und auch diese merkwürdige Körperhaltung, mit der er durch die Säle im Élysée-Palast schritt, erinnerte manche stark an den größenwahnsinnigen Insassen Nummer 327 der Wiener Irrenanstalt. Aber wie endgültig sein Realitätsverlust tatsächlich war, diese Erkenntnis blieb offensichtlich dem Testamentsvollstrecker vorbehalten. „Anonymes Volk“. Man kann es nicht oft genug wiederholen. Was kann er damit gemeint haben? Waren das am Ende die Franzosen, die er regiert hat?
Ich sehe ihn. Er sitzt neben meinem Großvater im Himmel. Großvater ißt Hefekranz. Mitterrand ein Croissant. Beide lachen. Philipp Maußhardt
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