■ Querspalte: Karte und Charakter
Kofferraum auf, vor diesem Mann! Ganz zum Schluß dann noch dies: Der entführte Jan Philipp Reemtsma entsteigt dem Kofferraum, schüttelt dem maskierten Entführer zum Abschied die Hand und bittet ihn, so etwas nie wieder zu tun. Der Mann lacht ein wenig. Dann fällt von Reemtsma der unglaubliche Satz: „Geben Sie mir Ihre Visitenkarte. Für den Fall, daß jemand gekidnappt werden will, werde ich Sie wärmsten weiterempfehlen.“
Und nun geschieht das Unfaßbare: Der Maskierte greift automatisch in seine obere linke Hemdentasche und überreicht Reemtsma seine Karte. „Roland B. Schließer. Referat Entführung und Erpressung.“
So geht mir das ja auch immer: Noch bevor ich „Haben Sie ein Kärt...“ sagen kann, zückt mein Gegenüber das „...chen“ schon heraus. Artig bedanke ich mich, und vergaß ich es, vor der Haustüre in den Gulli zu werfen, kommt es zu Hause dann in die kleine Bambuskiste. Dort liegt es, bis an langen Winterabenden mir die Langeweile den Deckel öffnet. Dann finde ich darin den Herrn Gerstberger wieder. Sein Kärtchen macht mir immer viel Freude, weil darauf als Beruf „Völkerverständiger“ eingetragen und das ganz ernst gemeint ist, da Herr Gerstberger gut bezahlt in der Robert-Bosch-Stiftung die Völker miteinander verständigt. Es liegt gleich unter der Karte von Dr. Höppner, seines Zeichens „Direktor Broschüren- und Blockheftung“.
Obwohl Direktor als Berufsbezeichnung auf der Visitenkarte ungefähr so spannend klingt wie Zahnlaborant, bewahre ich es auf. Viel lieber aber hole ich aus dem Bambuskistchen den „Joachim Faulhaber, Baumveredler“ heraus oder „Jochen Hassel, Tiefbohrer“.
Wer keine Karte hat, hat auch keinen Charakter, sagt mein Freund Christoph immer, weshalb er trotz aller Bedenken auf die seine als Berufsbezeichnung wahrheitsgemäß „Arbeitsloser“ drucken ließ. Sie liegt bei mir ganz oben. Nur Roland B. Schließer hätte eine Chance, da noch drüberzugehen. Philipp Maußhardt
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