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■ QuerspalteUnsere arme Dagmar

Sie hat sogar Macht über die Sperrstunde. Vorgestern nacht, als die Zapfhähne normalerweise längst versiegt sind, überredete uns der Wirt zu einer Bestellung auf Vorrat. Die Nacht werde lang, meinte er: „Michelle schwimmt um achtzehn vor eins.“ Dann machte er das TV an. Eine halbe Stunde später hatte Michelle Smith ihre zweite Goldmedaille in Atlanta gewonnen. Im irischen Fernsehen weinten alle: ihre Schwestern, die Cousine zweiten Grades und der Fernsehreporter. Jetzt ist Smith die erste Irin, die zwei Goldmedaillen gewonnen hat; davor war sie die erste Irin, die eine Goldmedaille gewonnen hatte. Dann spielten sie das Beatles-Lied „Michelle“ im Fernsehen.

Die Siegerehrung mußten wir zu Hause anschauen, weil der Pub dann doch dichtmachte. Im ZDF – dank Satellitenschüssel auch in Irland zu empfangen – war Reporterdumpfbeutel Wolf-Dieter Poschmann zu später Stunde noch am Werk. Und er war in Hochform: „Die Australier rasieren sich gegenseitig die Köpfe und tun dabei fernsehen“, plapperte er. Und was tat Poschmann dann machen? Er winselte über Michelle Smiths Gewinn: „Ich kann mich über diese Goldmedaille nicht freuen.“ Als ob man das von ihm verlangt hätte. Smith sei gedopt gewesen, deutete Poschmann an, sonst hätte sie nie „unsere Dagmar Haase“ besiegt. Der Beweis: Die Irin ist mit einem Holländer verheiratet. Da war alles klar: In Holland rauchen ja auch Omas beim Kaffeekränzchen Drogen. Und Smith-Ehemann Erik de Bruin ist wegen Dopings zur Zeit gesperrt, poschmannte es aus dem Gerät.

Bei den Smith-de-Bruins sind es die Drogen, bei Poschmanns ist, scheint's, der Alkohol. Der ZDF-Reporter ist Trinker. Deshalb ist ihm auch der wahre Grund für den irischen Goldregen entgangen: In ganz Irland gibt es kein einziges Schwimmbad mit einer 50-Meter-Bahn. So hat Michelle Smith bei ihrem Rennen in Atlanta bereits nach 25 Meter gewendet und keiner hat's gemerkt. Macht nix. Wegen der Lockerung der Sperrstunde wird sie daheim ohnehin heiliggesprochen. Ralf Sotscheck

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