■ Querspalte: Ach, krawallöse Jugend
Berlin, jener östlichdeutsche Kiezhaufen nahe Potsdam, macht bekanntlich schwer Karriere: Hauptstadt, bald Regierungssitz, baldmöglichst Kulturzentrum Europas, internationale Drehscheibe und überhaupt. Wieder einmal soll die Welt auf diese Stadt sehen. Doch niemand gibt einem Sehhilfen. Und wehe, du kommst als Fremder ganz naiv vorbeigeschaut und die zunehmend hauptstadtfähigen Doppelhalbstädter in all ihren gröblichen Feinheiten präsentieren sich dir etwa so: Zwei Damen gesetzten Alters steigen in die U2 ein – so ziemlich die oberste Schicht, die noch U-Bahn fährt. Eine der beiden, frühlingsbetonendes Blümchenkleid frisch gestärkt am voluminösen Leib, will sich niederlassen. Und erschrickt wagenweit hörbar. „Huuch. Was ist das wieder schmutzig hier! E-kel-haft!“ Das Polster ist blitzblank, ahnbar sind höchstens einige verblaßte Graffiti-Reste. „Diese Schmierer müßte man beim Schlafittchen packen und sie sofort in flagranti das wieder ablecken lassen. Jawohl: ablecken!“ Die andere der beiden fühlt sich zur Steigerung provoziert: „Ach was, meine Liebe, von wegen: ablecken. Sofort die Hand abhacken...“
Was jetzt? Der Schreck will sich einstellen, der stets kommt, wenn die Wirklichkeit das Klischee überzuerfüllen scheint. Was tun? Alles ignorieren und den Fortgang nur großohrig weiterverfolgen? Milde der Dame ein Taschentuch reichen, kavalierhaft, zur Unterlage? Oder doch sich einmischen? Eine Debatte anzetteln über ästhetische Fragen, über die krawallöse Jugend, die verbalkrawallöse bessere Gesellschaft? Die beiden Damen vielleicht rechtgebend provozieren oder gleich als faschistoide Ratten beschimpfen? In Berlin wartet man besser ab. In Berlin nämlich mischt sich von gegenüber eine dritte Dame ein. Hart in der Sache, aber doch eben auch generös: „Nee, Hand abhacken, dit wär' doch zu hart. Allet ablecken, dit genügt. Aber der soll lecken, bis er kotzt!“ Energisch nickte man sich zu. „Sehr richtig!“ Ja, so würde man vorgehen! Wer das Erbrochene ablecken soll, blieb offen. Bernd Müllender
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