■ Querspalte: Hysterie, Drama, Kohl
Da blüht den Landschaften aber mal wieder was: Wasser! Und Kohl! Die Oder schwillt an, einen Zentimeter pro Stunde. Erste Sommerlöcher in den Sandsäcken, in Polen schon Land unter. Menschenmassen, Hysterie und großes Drama. Helmut Kohl will da natürlich nicht abseits stehen. Nicht, daß schon wieder Genscher irgendwo Sandsäcke zusagt, diesmal bloß erster sein!
Natürlich kann Helmut Kohl für diese ostdeutsche Katastrophe ausnahmsweise mal nichts. Aber in all der Themenebbe klingt es beinahe so. Kohl selbst nährt Mißverständnisse mit einem heiklen Satz auf dem Deich, gerade angekommen: „Das ist eine schlimme Heimsuchung für die ganze Region.“ Bild notierte devot die Zusage „aller erdenklichen Hilfe“, verdarb jedoch die Hofhund-Berichterstattung durch sinnverzerrendes Zitieren. Das Hochwasser nämlich sei „die größte Katastrophe in den neuen Ländern seit der Wiedervereinigung“. Hätte Kohl gesagt. Konnotativ deutet hier – streng semantisch – manches auf harsche Selbstkritik hin. Aber Gemach: Hier wurde bloß die Wiedervereinigung eher als zeitliche Zäsur, als unsinkbare Sowiesoklarheit anerkannt denn als andauernder, enervierender Prozeß. Man könnte auch Katastrophe sagen. Und Kohl mittendrin. Die Fotos wirken wie die esoterischen 3D-Bilder, die vor zwei Jahren kurzfristig begeisterten – ganz viele Sandsäcke und, ja, da, tatsächlich, Helmut Kohl. Auch hier nützt es, ein Auge zuzuhalten, ja zuzudrücken.
Abends entschuldigt sich im ZDF Wolf von Lojewski weder für seine häßliche Krawatte noch für die Wiedervereinigung, sondern allein dafür, daß durch die Berichterstattung der Zeitplan „weggespült“ worden sei. Das ist natürlich so witzig wie tragisch (wie die Krawatte! die Wiedervereinigung!). Und weil es immer so schön ist, wurden auch Opfer befragt. Eine Trümmerfrau bemerkte lakonisch, wenn das Wasser weiter steige, dann „tja, dann kannste wieder von vorne anfangen“. Wie bei der letzten großen Katastrophe in den neuen Ländern 1990.
Benjamin v. Stuckrad-Barre
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