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■ QuerspalteBahnbrechender Erfolg

Was sind Fahrpläne? Nicht mehr als ein Gedankengerüst, ein Versuch, das System Bahn in eine künstliche Ordnung zu zwängen, ein Relikt aus Zeiten, in denen ein unpünktlicher Zug als Staatskrise galt. Auf der Berliner Stadtbahn läuft seit dem Fahrplanwechsel vergangenen Sonntag ein Experiment mit bahnbrechendem Erfolg. Das Fahrplankorsett hat sich mit Computerunterstützung selbst gesprengt. Rund 360 Züge wollte man täglich über die für 2 Milliarden DM sanierte Stadtbahn rollen lassen. Alle 12 Minuten ein Regionalexpreß, dazwischen ICEs, das volle Programm eben.

Nur eine Woche hatte man geübt, um das Chaos in der Theorie zu bewältigen. Der Anbruch der Bahn-Moderne aber ist das Ende der Chaos-Theorie. Jetzt kommt die Praxis: Verzweifelte Nicht-Reisende drohen Schaffnern Prügel an, ZugbegleiterInnen sagen: Solange ich hier stehe, kann der Zug noch nicht abgefahren sein. Anzeigentafeln kollabieren. Nagelneue Fahrtrichtungsdisplays am ICE spinnen. Bahnhofsdurchsagen ersterben unter Lokgequietsche. Und niemand weiß, ob der vordere Teil des neuen ICE2 nach Düsseldorf fährt oder vielleicht doch der hintere.

Dylan sagte, wir sollten die Parkuhren beobachten, Enzensberger riet zum Lesen der Fahrpläne, irgendwer sang vom Zug nach nirgendwo. Aber auch der fährt heute nicht aus Gleis 2. Ab nun heißt es locker: Laß uns zum Bahnhof gehen, gucken, ob ein Zug fährt. Das Ende der Fahrpläne schafft ungeahnte neue Freiheiten. Kreative Reisende sind gefragt, Chaos als Chance. Ruhig mal mit dem RE nach Potsdam vorfahren und dort in den ICE steigen, der nicht bis Zoo durchkam. Die perfide Autolobby hat's vorgemacht: ohne Fahrpläne keine Verspätungen. Ein Stau ist keine als Unordnung empfundene Sauerei, über die man sich bei irgendwem beschweren könnte. Er ist organisch. Der nächste Schritt in die Bahn-Moderne wird die Eröffnung der Schnellstrecke Köln– Frankfurt. Die kommt völlig ohne Signale aus. Die Züge werden aus dem All gelenkt, von Satelliten. Andreas Becker

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