QUERSPALTE: Berlin, die Frontstadt
■ Die Kriminalgeographie und die Hauptstadtfrage
Wer könnte noch den Überblick behalten über die ins Unermeßliche wuchernde Zahl der Wissenschaftsdisziplinen? Ahnten wir vorgestern nichts von der Existenz einer Wissenschaft namens »Kriminalgeographie«, mußten wir gestern bereits erste Früchte ihrer Forschung zur Kenntnis nehmen: »Berlin und dessen Umgebung im Radius von 50 Kilometern hat sich zu einem geschlossenen kriminalgeographischen Raum entwickelt«, teilte die Polizeigewerkschaft uns mit — und bewies nebenbei, daß mit wachsender kriminalgeographischer Spezialisierung die interdisziplinäre Einbeziehung von Kenntnissen entfernter Wissensgebiete, wie der Grammatik, zunehmend schwerfällt.
Kriminalgeographisch mag Berlin ein geschlossener Raum sein, politgeographisch ballen sich auf engstem Raum krasse Kontraste. Im Pressezimmer des Rathauses Schöneberg beruhigte uns gestern Innensenator Heckelmann, Berlin sei keineswegs »die Kriminalitätshauptstadt Deutschlands«. Nur 50 Meter weiter im Raum 195 des Rathauses schlugen gleichzeitig Staatsanwälte und Polizisten Alarm: Berlin werde »überrollt« von der Kriminalität. Heckelmanns neues Polizeigesetz sei deshalb unverzichtbar.
Daraus nun die gebotenen — geopolitischen! — Konsequenzen zu ziehen blieb bislang Bundesbauministerin Irmgard Schwaetzer vorbehalten. Schon im Juli verlangte sie brieflich vom Senat, daß der Bund »für Baumaßnahmen seiner Verfassungsorgane und seiner obersten Behörden« in Berlin »die gleichen Befugnisse« erhält, wie sonst nur »für Baumaßnahmen der Landesverteidigung«.
Nun hatte die Bundesregierung in Bonn diese Befugnisse nicht. Der Berliner Senat stellt sich deshalb noch quer. Dabei beweist Schwaetzer die Weitsicht, die beim Vordringen in geschlossene kriminalgeographische Räume unverzichtbar ist. Bonn ist die Etappe, Berlin die Frontstadt. Und was die Bundesregierung nun braucht, das sind keine Tunnel — sondern Schützengräben. Hans-Martin Tillack
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