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Archiv-Artikel

Puis j’avoir vos votes?

24 Songs aus ebenso vielen Ländern gehen heute in Istanbul beim Eurovision Song Contest an den Start: Wer beerbt Sertab Erener? Etwa Max? Oder die Maltesen, deren Song Ralph Siegel mischte?

VON JAN FEDDERSEN & IVOR LYTTLE

1. Spanien. Ramón mit „Para llenarme de ti“: Knuffig, sexy, draufgängerisch, irgendwie sensibel, der Mann. Das Lied ist das, was man von einem Song aus diesem Land erwarten darf. Irgendwie klingt seit 15 Jahren alles nach Gypsy Kings: Aber den Eindruck des Immergleichen zerstreut der Interpret glänzend: Auch dies wird in mediterranen Gegenden ein mächtiger Charterfolg.

2. Österreich. Tie-Break mit „Du bist“: Siebenmal hat dieses Land den letzten Platz belegt – und das war meistens gerecht. Dieses Jahr könnte die Schande abermals passieren: Drei Jungs, die kaum singen können, die Show durch Getue ersetzen und lächeln, wie es eingefroren-einstudierter kaum geht. Das Lied? Pah! Austrischer Mist!

3. Norwegen. Knut Anders Sørum mit „High“: Ein Mann aus der Provinz seines Landes. Singen kann er, sein Augenaufschlag ist der, den Kumpels untereinander austauschen, wenn sie sich zum Thema Frauen verständigen. Sein Lied muss als Mix aus U2, Europe und A-ha beschrieben werden – garniert von einem souligen Chor, der immer die Überschrift des Liedes ausstößt. Wird vorne landen.

4. Frankreich. Jonatan Cerrada mit „A chaque pas“: Frankophone Krudität eines jungen Belgiers, der in Frankreich eine Castingshow gewann. Sein Chanson hört sich wie alles aus dieser europäischen Gegend an. Nix Weltmusik bei der Eurovision, wie früher, keine Experimente. Wird sich das Publikum auch sagen: hinteres Drittel.

5. Serbien & Montenegro. Zeljko & Ad Hoc Orkestra mit „Lane moje“: Das vielleicht schönste, lyrischste Lied des Abends. Der Interpret, der für sein Land das Debüt in der Eurovision gibt, singt schön – und weiß mit der anspruchsvollen Komposition sensibel umzugehen. Hoffentlich wissen die Zuschauer bei der Abstimmung zu würdigen, dass da einer etwas riskiert: Qualität.

6. Malta. Julie & Ludwig: „On again. Off again.“: Die Maltesen hoffen auf dieses Duo, dessen Song vom gleichen Team geschrieben wurde, das vor zwei Jahren dem neuen EU-Mitglied einen zweiten Platz bescherte. Ludwig hat einen lyrischen Bariton, sie kann auch opernhaft trällern. Der einzige echte Schlager des Abends. Ralph Siegel hat den Song in seinem Münchner Studio neu gemischt. Jetzt klingt er wie ein Mix aus Corinna May, Lou und Wind.

7. Niederlande. Re-Union mit „Without You“: Zwei Männer sitzen auf Barhockern und singen zur Gitarre ein Lied, im mittlerem Tempo vorgetragen. Und? Paul de Corte und Fabrizio Pennisi teilen uns mit, dass nichts allein geht auf der Welt, dass man sich vertragen müsse. Wer würde das bestreiten? Wer eher holländische Backgroundsänger mag, die zu einer gewissen Leibesfülle neigen: Einer ist dabei.

8. Deutschland. Max mit „Can’t Wait Until Tonight“: Zu ihm scheint alles gesagt. Er liegt in den Wetten okay. Grand-Prix-Fans mögen seine Nonglamourosität nicht. Möglicherweise wird er einen Refrain auf Türkisch singen. Man baut auf die Auswanderer des Landes im sonstigen Europa.

9. Albanien. Anjeza Shahini mit „The Image of You“ Nein, auf Albanisch wolle sie nicht singen, beteuerte die 18-jährige Schülerin aus Tirana, denn dann könne sie die Welt nicht verstehen. So klingt es wie ein Song wie aus einem Castingwettbewerb in der englischen Grafschaft Devon. Toll aber, dass das europäische Musterland des Maoismus nun keine Scheu zeigt, mit bürgerlichem Entertainment zu reüssieren.

10. Ukraine. Ruslana mit „Wild Dance“ Sie will unbedingt gewinnen, das hat sie versichert. Ein schöner Charakterzug, nicht so zu tun, als brächte schon die Teilnahme Spaß. Mit fünf Tänzern inszeniert sie sich als wilde Tänzerin, versehen mit einem martialisch anmutenden Kostüm. Klingt wie eine Mischung aus Kung-Fu-Fighting und Riverdance.

11. Kroatien. Ivan Mikulic mit „You Are The Only One: So kennt man diesen Teil des Balkan: Als Landstrich, wo man gern Balladen der schmerzlichsten Art singt. Der Herr, der heute für dieses Land antritt, sieht eher aus wie ein Bankangestellter. Und das ist sehr schade, denn der Song wird ihn auch nicht vor dem Abstieg retten.

12. Bosnien & Herzegowina. Deen mit „In The Disco“: Dieser Act beweist, dass es auch in Sarajewo junge Männer gibt, die vom gay life träumen – das in einer Disco ihren Fokus finden möge. Der Sänger, für die Bühne stets frisch blondiert, stampft und stompert durch die drei Minuten immer das Gleiche: „Worauf du dich freust / ist die Disco …“.

13. Belgien. Xandee mit „1 Life“: Vielleicht zu voreilig wurde sie vor Wochen schon als legitime Nachfolgerin von Dana International gehandelt. Auch Xandees Song lebt von der Tanzbarkeit. Aber wo die Israelin ein Geheimnis zu tragen schien, legt die Belgierin nur diesen Gedanken nahe: „Der Song ist mir egal, Hauptsache, er bringt Punkte.“ Aber ist das europäische Publikum so leicht zu verführen?

14. Russland. Julia Sawitschewa mit „Believe Me“: Eine junge Frau, die, man hört die Zitate in ihrem Lied, Sarah McLachlan wie auch Eva Cassidy gern hat, gern ausgewaschene Bluejeans trägt und in ihrer Heimat so eine Art Jungsternchen ist. Ihr Lied wird hoch gehandelt, manche glauben, in ihr eine Siegerin zu erkennen. Wäre schön!

15. Mazedonien. Tose Proeski mit „Life“: In der Eurovision wird dieses Land noch immer als FYROM of Macedonia geführt – als „Frühere Jugoslawische Republik Mazedonien“. Nur um die Griechen zu beruhigen, deren nördlicher Landesteil Mazedonien heißt. Tatsächlich nützt alle Korinthensucherei um politischen Kleinkram nichts: Das Lied ist einfach nicht gut. Keine klare Melodie, kein Charme.

16. Griechenland. Sakis Rouvas mit „Shake It!“: Er hat Muskeln. Er guckt, als könne ihm niemand widerstehen. Er kann tanzen, trägt die Achseln rasiert zur Schau und wirkt wie ein Work-Out-Vorturner, der aus Versehen auch noch singen muss. Einfach zum Schütteln mies. Kalkuliert auf die Dancefloor-Szene. Der Sommerhit zwischen Mykonos und Kreta: Das ist sicher. Einen Eurovisionstriumph braucht er also nicht.

17. Island. Jónsi mit „Heaven“: Heaven. Sieht aus wie ein Model aus einer Joop-Reklame – unnatürlich mager. Singen kann er, laut und deutlich. Das Lied kann man mögen – aber werden die Zuschauer es auch erinnern? Da sind Zweifel erlaubt, ja vorzubringen nötig. Der Schwur zum Himmel, auf dass die Liebe wieder komme in einer zerrütteten Beziehung: Das ist als Thema nicht brandneu. Nächstes Jahr droht seinem Land, helfen ihm die skandinavischen Länder nicht mit lauter Höchstpunktzahlen, das Halbfinale.

18. Irland. Chris Doran mit „If The World Stops Turning“: Ach, irgendwie klingt es immer gleich, was dieses Land so bringt. Und meistens ja auch schön. Der Interpret wurde in einer Castingshow ausgesucht, mit besonderer Unterstützung von Eurovisionsgewinnerin Linda Martin. Why me? Fragte er – und sie antwortete im irischen Grand-Prix-Finale mit leuchtenden Augen: Coz’ it’s you, sweet! Schnulze, nichts als schmalzige Schnulze: Man müsste diese Sorte Musik erfinden, schon aus Diversitätsgründen, würde Eire sie nicht Jahr für Jahr quasi automatisch beisteuern.

19. Polen. Blue Café mit „Love Song“: Dieses Lied hat wenig gemein mit den teilweise grotesken Songs, die dieses Land in den vergangenen Jahren so ins Eurovisionsrennen schickte. Es ist loungig, sehr modern produziert, könnte aber jeder Buddha-Bar-CD beigepackt werden, ohne unangenehm aufzufallen. Tatiana Okupniks (auch Texterin) Stimme erinnert an Macy Gray – und das ist ja kein Verweis auf eine Schlechte. Komponist war ihr Lebensgefährte Pawel Rurak-Sokal: ein Juwel an diesem Abend.

20. Vereinigtes Königreich („United Kingdom“). James Fox mit „Hold On To Your Love“. Äußerlich vermeint man in ihm den ganz jungen Cliff Richard wiederzuerkennen – was nichts darüber aussagen muss, ob er wie der größte Popstar des Landes nicht gewinnen kann. Aber in diese Richtung gehen die Ansprüche Britanniens ja auch nicht: Man wäre schon froh, wenn man nicht den letzten Platz wie im Vorjahr belegen müsste. Das Lied? Nicht dies, nicht das: allen wohl, niemand weh. Middle of the road: nett.

21. Zypern. Lisa Andreas mit „Stronger Every Minute“: Die Vorfahren der 16-jährigen stammen aus Zypern, sie selbst lebt aber in London – und so spricht sie auch: mehr Cockney als Chelsea. Sie verfügt über eine bewundernswert klare Stimme – und ist von Statur so klein wie wuchtig. Das Lied lebt von der gleichen Idee wie der von Max: einfach, schlicht, gut. Ihre Mimik ist sensationell beeindruckend. Ihr glaubt man, dass die Liebe mit jeder Minute wächst. Siegesanwärterin!

22. Türkei. Athena mit „For Real“: Zwei Männer, Hakan und Gökhan, machen Musik, die junge Menschen, vor allem Hooligans, sehr mögen – Ska. Einst ein britisches Erzeugnis, wird diese Musik überall gemocht, gern im Umfeld von Basketball- und Fußballstadien. Der Song darf als dark horse gelten – kein Favorit, könnte aber überraschend an allen anderen Beiträgen vorbeiziehen, schon, weil die Türken so eine überwältigende Show produzieren. Und schließlich: Beide sehen wie sympathische Jungs aus, die nur böse gucken, es aber nicht sind.

23. Rumänien. Sanda Ladosi mit „I Admit“: Die transsylvanische Pamela Anderson. In Rumänien scheint man Shania Twain gut studiert zu haben – und das soll die Sängerin aus Cluj nun auch unter Beweis stellen. Voriges Jahr schaffte man mit einer garantiert folklorefreien Nummer den Einzug in die Top 10: Das soll wieder klappen.

24. Schweden. Lena Philipsson mit „It Hurts“: Sie ist ein Wunder – diese Interpretin. In ihrer Heimat ein absoluter Superstar. 38 Jahre alt, unumwunden gibt sie zu, was die meisten Frauen lieber diskret verschweigen. Sie steht seit 20 Jahren auf der Bühne – und schaffte nach mehreren zweiten Plätzen beim schwedischen Vorentscheid erst dieses Jahr einen Sieg. Sie gilt als eine der Favoritinnen – ihr Tanz mit dem Mikrofonständer ist tatsächlich gekonnt, zeugt von großem Selbstvertrauen und ist ästhetisch die Antithese zu jeder absurden Kopftuchdebatte.

IVOR LYTTLE, Jahrgang 1959, im wirklichen Leben als Schifffahrtskaufmann in Bremen tätig, gibt das Grand-Prix-Fanzine Euro-Song News heraus, JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist taz.mag-Redakteur und lebt in Berlin