■ Prozeßlawine rollt auf kanadische Waisenhäuser zu: „Ab heute seid ihr alle verrückt“
Montreal (AP/taz) – Auf sieben christliche Ordensgemeinschaften in Kanada, die in den 50er und 60er Jahren ein Dutzend Waisenhäuser und Psychiatrien leiteten, rollt eine Prozeßlawine zu: Rund 4.000 ehemalige Heimbewohner haben die Orden wegen körperlicher, sexueller und psychologischer Mißhandlung auf Schadenersatz in Höhe von 1,5 Milliarden Kanada-Dollar, rund zwei Milliarden Mark, verklagt. Außerdem ermittelt die Polizei in Quebec gegen zahlreiche Personen, die damals in den Kranken- und Waisenhäusern gearbeitet haben. Die Kläger sind in Kanada als „Duplessis-Kinder“ bekannt, so genannt nach dem Ministerpräsidenten Maurice Duplessis, der 1945 bis 1959 in Quebec mit eiserner Faust regierte und uneheliche Kinder als gesellschaftliche Fehltritte bezeichnete, die es zu verstecken galt.
Tausenden Kindern erging es in den 50er Jahren wie Hervé Bertrand: Am 17. März 1955 war er noch ein gewöhnlicher, elf Jahre alter Schüler, der zum Unterricht ins Waisenhaus von Mount Providence in Montreal ging. Ab dem 18.März 1955 galt Hervé als Idiot. Der Grund dafür war, daß die Provinzregierung dem von katholischen Nonnen geleiteten Waisenhaus für die Versorgung der Kinder 75 Cents pro Tag bezahlte, für geistig behinderte Kinder zahlte sie dagegen 2,75 Dollar. Also änderte das Waisenhaus von einem Tag auf den anderen seine „Berufung“, nannte sich fortan Psychiatrie und erklärte seine Schutzbefohlenen für geisteskrank. Nach Angaben der Kläger waren etwa 90 Prozent davon uneheliche Kinder. Viele wurden in psychiatrischen Anstalten untergebracht und mußten auf überfüllten Stationen mit tatsächlich geistig behinderten Menschen zusammenleben. Die Waisen berichteten, daß sie mit Lederriemen, Paddeln und Fäusten geschlagen, sexuell und psychologisch mißbraucht, oft wochenlang in Zwangsjacken gesteckt, in Eiswasser getaucht und an ihre Betten gefesselt wurden.
Bertrand, heute ein 50jähriger Klempner, erinnert sich noch gut an den Tag des „Wechsels der Berufung“. Damals sei Schwester Collette Francois in das Klassenzimmer gekommen und habe erklärt, daß es „ab heute keine Schule mehr gibt. Nehmt eure Sachen mit und geht in die Schlafsäle. Ab heute seid ihr alle verrückt, geistig behindert. Einige Nonnen weinten. Sie wußten, daß sie etwas Böses getan hatten.“
Der Klempner ist der Sprecher der ehemaligen Waisen, die die Klage einbrachten. Er berichtet, daß er zwischen 1954 und 1959 von einem Aufseher mehrfach sexuell mißbraucht worden war. „Es war ein Alptraum. Mein ganzes Leben lang hat es mich verfolgt. Ich weiß nicht, ob ich es eines Tages vergessen kann.“ Yvette Gascon, 53, erzählte, wie sie als Kind in eine Zwangsjacke gesteckt und dann in Eiswasser getaucht wurde. Dabei sei sie von einer Nonne geschlagen und untergetaucht worden, nur weil sie ihr Bett nicht einwandfrei gemacht habe. Andere Einwohner aus Quebec, die diese Zeit erlebt haben, berichten über ähnliche Erlebnisse bis hin zu Mord.
Schwester Gisele Fortier, Nonne und Sprecherin der sieben beklagten Orden, appelliert an die Kritiker, nicht die damalige Zeit und ihre Umstände zu vergessen. Die Nonnen seien überarbeitet gewesen, man habe kein Geld gehabt, und da könne es schon einzelne Fälle von Zornausbrüchen gegeben haben. Buchautorin und Soziologin Pauline Gill läßt das nicht gelten. „Wann ist es jemals in unserer Gesellschaft erlaubt gewesen, Kinder wochenlang ans Bett zu fesseln oder sie ins Eiswasser zu stecken? Diese Nonnen hatten Macht. Sie hatten die Macht, über diese Kinder zu richten“, sagte die Schriftstellerin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen