: Prozeß trotz zugesagter Straffreiheit
■ Wie in Moabit der Hausfrieden einer seit vier Jahren leerstehenden Klinik geschützt wird/ Obwohl Zeugen keine Angaben mehr machen können, wird Strafverfahren gegen »Besetzer« fortgeführt
Moabit. Sechs Angeklagte müssen sich derzeit vor dem Amtsgericht Tiergarten wegen des Vorwurfs des Hausfriedensbruchs verantworten: Sie sollen zusammen mit 40 »Gesinnungsgenossen« in den Abendstunden des 1.12.1989 die damals bereits seit zwei Jahren leerstehende Klinik am Viktoria-Park vorübergehend besetzt und damit den »Hausfrieden« dieser Klinik gebrochen haben. Demonstranten zogen dort ein und forderten, die guterhaltenen Klinikräume zur Unterbringung pflegebedürftiger Aidskranker zu benutzen, für die die Sozial- und Gesundheitsbehörden keine Räume gefunden hatten. Die »Besetzer« wurden von zahlreichen Journalisten, Künstlern und Persönlichkeiten der Schwulen- Szene Berlins unterstützt.
Die Aktion glich — wie einer der vor Ort eingesetzten Polizeibeamten dem Gericht schilderte — eher einer Demonstration als einer Besetzung. Zudem fand die »Besetzung« ein zügiges Ende: einige Personen wurden herausgetragen, ihre Personalien festgestellt. Den in den Räumen verbliebenen 30 Demonstranten versprach der Einsatzleiter der Polizei, die Personalienfeststellung abzubrechen, wenn sie freiwillig das Haus verlassen würden. Auch gegen die bereits festgestellten Personen würde die Sache dann ohne weitere »strafrechtliche« Maßnahmen beendet. Die Leute verließen daraufhin das Haus, doch gegen den Einsatzleiter wurde ein Verfahren wegen »Strafvereitelung« im Amt eingeleitet (weil er Straffreiheit versprochen hatte) und später eingestellt.
Dreizehn Männern, deren Personalien in die Akte gelangt waren, wird nun der Prozeß gemacht. Mit großem Aufwand, zahlreichen Zeugen, Beweismitteln und Verhandlungstagen sucht das erweiterte Schöffengericht ihnen nachzuweisen, daß sie in der Klinik gewesen seien. Der erste Prozeß mußte im Sommer vergangenen Jahres abgebrochen werden, weil die als Zeugen aufgebotenen Polizeibeamten keine Angaben mehr darüber machen konnten, wie die Namen der Betroffenen in die Akte gelangt waren. Von einem anderen Gericht sollten einzelne Besetzer in erster Instanz zu Geldstrafen von 20 Tagessätzen verurteilt werden. Sie sind jedoch in die Berufung gegangen.
Die Neuauflage des Hauptprozesses findet derzeit gegen sechs Angeklagte statt. Am ersten Verhandlungstag stellte sich nun heraus, daß überhaupt kein einziger Polizist mehr zu finden ist, der an der Festnahme beteiligt war. Das hätte — nach Auffassung der Verteidiger — sofort zum Freispruch führen müssen, weil nun auch nicht mehr nachzuweisen ist, wer überhaupt die Klinik besetzt hatte. Doch die Staatsanwaltschaft — offenbar anderweitig nicht ausgelastet — verlangt nun vom Gericht, sämtliche in der Akte namentlich genannten »Mittäter« zu hören, weil die angeblich die Angeklagten als »Besetzer« identifizieren können. Was die Staatsanwaltschaft weiß: Alle diese »Zeugen« haben bisher jede Aussage verweigert.
Das Gericht, das zunächst die Angeklagten gedrängt hatte, einer Einstellung des Verfahrens unter Zahlung von Geldbußen zuzustimmen, lädt nun sämtliche namentlich bekannten »Mittäter« als Zeugen vor — gegen die Angeklagten. Da einige nicht erreichbar sein sollen, wird dieser Prozeß die Justiz noch Wochen beschäftigen.
Die Klinik in der Methfesselstraße — soviel steht fest — hat ihren Frieden bis heute nicht gefunden. Sie steht immer noch leer und wird keiner sinnvollen Verwendung zugeführt. Zugleich betreibt Justizsenatorin Jutta Limbach eine Gesetzesinitiative des Landes Berlin im Bundesrat, durch die Rechte von Beschuldigten im Strafverfahren abgebaut werden sollen, weil die Justiz angeblich überlastet sei. taz
Nächster Prozeßtag morgen um 9 Uhr, Saal 504.
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