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Provinz Europa

■ Auftakt zum taz-Schwerpunkt EG-Europa

Edgar Morin

Europa ist heute für die Westeuropäer gleichbedeutend mit Butterbergen, Milchquoten, brudermörderischen Kämpfen zwischen holländischen und französischen Schweinen; endlosen Ministerratssitzungen, wo man sich im Morgengrauen endlich zu einer 0,01 prozentigen Erhöhung bzw. Senkung des Rote Beete-Preises durchringt; Attache-Koffern, die zwischen Brüssel und Straßburg hin- und herwandern; Produktionsindizes und Inflationsraten vergleichen. Das Nachdenken über europäische Probleme bleibt den Euro-Techno -Ökonokraten und Abgeordneten vorbehalten, die kein Wähler erkennt, weil sie nur in ihrem Straßburger Empyreum tagen. Sicherlich sollte man sich wünschen, daß sich die Attache -Koffer leeren und die Eurokraten ihre Arbeit einstellen. Man sollte vor allem hoffen, daß die Politiker sich verstärkt dem gemeinsamen Schicksal widmen.

Europa ist geschrumpft. Es stellt nur noch einen kleinen Teil des Okzidents dar, während noch vor vier Jahrhunderten der Okzident ein kleiner Teil Europas war. Es repräsentiert nicht mehr den Mittelpunkt der Geschichte. Europa erscheint im Vergleich zu den gigantischen Imperien provinzhaft, und nicht nur innerhalb der westlichen Welt, sondern auch im Rahmen des planetaren Zeitalters ist es zur Provinz geworden. Europa kann seinen Provinzstatus aber nur verantwortlich annehmen, wenn es nicht mehr in Staaten zersplittert ist, die alle über eine uneingeschränkte Souveränität verfügen. Die Provinzialisierung Europas erfordert paradoxerweise, daß es seine Nationen überwindet, um sie zu erhalten, und daß es zu einem den Staaten übergeordneten Rechtsgebilde wird.

Deshalb erfordert die neue Situation viel mehr als Akzeptierung und Anpassung; sie verlangt zwei anscheinend widersprüchliche, aber im Grunde einander ergänzende Veränderungen: Zum einen müssen wir die Nation überwinden, und zum anderen müssen wir zu einer Provinz schrumpfen. Aus der Provinz Europa Kraft zu schöpfen und das planetare Schicksal anzunehmen, beides muß zu ein- und derselben Handlung werden, das heißt, wir müssen uns auf neue und konkrete Weise des Universalen annehmen, dessen Konzept unsere Kultur geschaffen hat. Europa muß sich zugleich in eine Provinz und in eine Meta-Nation verwandeln.

Die europäische Identität kann wie jede andere Identität nur eine Komponente einer Poly-Identität sein. Wie leben in der Illusion, daß Identität etwas Einheitliches und Unteilbares ist, während sie eigentlich immer eine unitas multiplex darstellt. Wir alle sind Wesen mit einer Poly -Identität, weil wir eine familäre, eine lokale, eine regionale, eine nationale, eine trans-nationale (slawische, germanische, lateinische) und letztlich auch eine religiöse oder weltanschauliche Identität in uns vereinigen. Durch Identitätskonflikte ist es schon oft zu Tragödien gekommen, so zum Beispiel bei Kindern mit deutschem Vater und französischer Mutter, wenn sie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts lebten. Es kann jedoch auch ein Glück darin liegen, zwei im Widerstreit befindliche Identitäten in sich selbst zu versöhnen wie es wohl auch die jungen, in Frankreich geborenen Araber machen werden, wenn sie den in ihren Augen bestehenden Widerspruch in sich selbst zu einer komplexen Identität umwandeln.

Im Grunde ist kein Konflikt zwischen der nationalen Identität eines Europäers und seiner europäischen Identität mehr möglich. Das Problem ist, daß das Bewußtsein dieser europäischen Identität noch unterentwickelt ist. Man muß schon Europa beraubt worden sein, um seine europäische Identität wirklich stark zu spüren, so wie jene tschechoslowakischen Intellektuellen, die nach 1968 nach New York emigriert waren und die, als sie nach Frankreich oder Italien in Urlaub fuhren, sagten, wir fahren nach Hause. Aber glücklicherweise sind wir nicht alle ausgewandert, und deshalb müssen wir in Europa von innen heraus Barrieren beseitigen und es für sich selbst öffnen.

In allen Bereichen erleben wir heute eine Krise der geschlossenen Konzepte und der mechanistischen, linearen und streng deterministischen Erklärungsmuster. Wir fangen an zu begreifen, wie ungenügend jene verengten Konzeptionen sind, die das Ganze in seinen einzelnen Bestandteilen oder die einzelnen Teile in dem sie umfassenden Ganzen ersticken. Wir müssen das Einheitliche im Vielgestaltigen und das Vielgestaltige im Einheitlichen untersuchen, ohne das das Einheitliche das Vielgestaltige absorbiert oder umgekehrt. Wir müssen begreifen, daß komplexe Zusammenhänge nicht nur aus sich gegenseitig ergänzenden, sondern auch aus konkurrierenden und antagonistischen Elementen bestehen, und müssen begreifen, daß jedes im Werden begriffene Phänomen zu seinem Verständnis eine komplexe Verbindung von Ordnung, Unordnung und Organisation benötigt.

Europa beginnt zu verschwimmen, wenn man versucht, eine klar definierte Vorstellung davon zu erlangen; es zerfällt, sobald man es als eine Einheit zu erkennen glaubt. Wenn wir nach dem Zeitpunkt der „Gründung“ Europas oder nach seiner unverwechselbaren Eigenheit suchen, dann entdecken wir, daß es nichts gibt, was von Anfang an charakteristisch für Europa gewesen wäre, und nichts, was man heute als ausschließlich europäisch bezeichnen könnte.

Man muß die Idee von einem einheitlichen, klar abgegrenzten, harmonischen Europa aufgeben, muß die Vorstellung einer europäischen Uressenz oder -substanz widerlegen, muß den Gedanken überwinden, daß vor allen Streitigkeiten und Antagonismen schon ein Europa existiert habe. Im Gegenteil, gerade diese Uneinigkeit macht Europa aus. Erst durch das Auseinanderbrechen der Christenheit konnten solche ureigenen europäischen Realitäten wie die Nationalstaaten, der Humanismus und die Wissenschaft entstehen, und erst durch die Auseinandersetzungen und Antagonismen zwischen den Nationalstaaten konnte sich der Begriff Europa verbreiten und durchsetzen. Damit sind wir bei der zentralen Schwierigkeit angelangt, die sich ergibt, wenn man versucht, Europa zu begreifen, aber an klassische Denkmuster gewöhnt ist, wo die Idee der Einheit die Idee der Vielgestaltigkeit und des Wandels in den Hintergrund drängt und die Vorstellung der Verschiedenheit mit einer Reihe zusammenhangloser Elemente assoziiert wird. Die Schwierigkeit, Europa zu begreifen, liegt vor allem in der Schwierigkeit, sich das Einheitliche im Vielgestaltigen und das Vielgestaltige im Einheitlichen vorzustellen: die unitas multiplex. Daher rührt auch die Schwierigkeit, sich eine Identität in der Nicht-Identität vorzustellen.

Edgar Morin ist Soziologe in Paris. Sein Buch „Penser Europe“ („Europa denken“), aus dem obiger Text zusammengestellt wurde, erscheint im Oktober bei Campus in deutscher Übersetzung. Wir danken dem Verlag für die Genehmigung des Vorabdrucks.

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