Proteste in Syrien: "Woche der Märtyrer"
Syrische Facebook-Gruppen rufen zu dezentralen Demonstrationen auf, den Rücktritt des Präsidenten al-Assads fordern sie nicht. Die Regierung kündigt Reformen an.
DAMASKUS taz | In der Damaszener Innenstadt ist nachts die verstärkte Präsenz von Geheimdienstmitarbeitern auffällig, obwohl von den Unruhen im Land kaum etwas zu merken ist. Doch am Dienstag fand im Vorort al-Qaboun eine von Studenten organisierte illegale Demonstration statt.
Erstmals verlief die per Mundpropaganda organisierte Aktion auch in der Hauptstadt blutig, wie auf der Facebookseite "The Syrian Revolution 2011" gemeldet wird. Mehrere Menschen sollen erschossen worden sein.
Der Dienstag war auch in anderen Landesteilen bewegt: In Deraa im Süden des Landes, wo seit Wochen Proteste stattfinden, kam es zu einer Trauerdemonstration für acht Tote vom Wochenende in Douma. Alle Zufahrtsstraßen nach Deraa sind von der Armee gesperrt, die Mobiltelefon- und Internetleitungen gekappt. Erneut wurde von Schießereien durch "maskierte Männer" in Deraa berichtet. In Homs, Aleppo, Latakia und Douma ist von massiver Sicherheitspräsenz, Hausdurchsuchungen und Festnahmen die Rede.
Mobilisierung auf Facebook
Die Proteste scheinen ganz im Sinn der anonymen Aktivisten der Facebook-Webseiten "The Syrian Revolution 2011" und "Syrian Youth for Freedom" zu stehen. Sie haben zu dezentralen Protesten im Rahmen einer "Woche der Märtyrer" aufgerufen. Am Donnerstag, dem Jahrestag der Gründung der regierenden Baath-Partei, sollen Demonstranten vor die Parteizentralen ziehen. Der Rücktritt des Präsidenten Baschar al-Assad wird auf den Webseiten noch nicht verlangt – jedoch, dass er dem Volk gegenüber sein Verständnis für die Proteste erklärt und umgehend Reformen einleitet.
Die staatlichen Medien vermelden, dass der ehemalige Landwirtschaftsminister und neue Premierminister Syriens, Adel Safar, dabei sei, ein Kabinett zu bilden. Gesetzesreformen, die das Notstandsgesetz außer Kraft setzen, werden ebenfalls erwartet. Allerdings gehen Kritiker davon aus, dass es, wie in anderen arabischen Ländern auch, durch ein "Anti-Terror-Gesetz" ersetzt wird, das dem Staat weiterhin die Möglichkeit zu willkürlichen Verhaftungen einräumt.
"Das Regime reagiert in dieser angespannten Lage viel zu langsam auf die Forderungen seiner Bürger, ohne uns etwas wirklich Neues zu bieten", meint Joseph Djahrah, kritischer Regisseur aus Damaskus, der seit Langem im Untergrund arbeitet. "Wir sind gespannt, ob tatsächlich neue Köpfe im Kabinett auftauchen werden, aber dem wird nicht so sein. Und selbst wenn, hat sich der Präsident bislang weder den Forderungen gestellt noch versucht, mit der Opposition in friedlichen Kontakt zu treten."
Islamistische Propaganda schreckt Dissidenten ab
In dem Haus des Regisseurs diskutieren junge Intellektuelle Nacht für Nacht konspirativ. Auch wenn einige Dissidenten trotz der Risiken, inhaftiert, misshandelt und erschossen zu werden, für ihren Ruf nach Reformen auf die Straßen gehen würden, so wollen sie sich den aktuellen Aufrufen zur "Woche der Märtyrer" doch nicht anschließen. Islamistisch-propagandistisch heißt es beispielsweise auf einer Webseite: "Unser Blut ist nicht mehr wert als eures, oh ihr Märtyrer von Deraa", daher "wollen wir uns für die Freiheit des syrischen Volkes opfern und im Paradies mit euch vereint sein".
Die politisch aktiven jungen Damaszener schreckt dieser Aufruf ab, da sie weder für islamistische Aufrufe, hinter denen sie die Muslimbruderschaft vermuten, demonstrieren wollen noch nach dem Sturz des Regimes einen islamischen Staat wollen. "Wir warten lieber noch ein wenig ab, was die Reformgesetze und das neue Kabinett uns an Vorschlägen präsentieren", sagt Djahrah scherzend, "es wäre doch zu schade, wenn sich tatsächlich etwas tun würde und die guten Leute, die auch bereit wären, in einem neuen Syrien Verantwortung zu übernehmen, schon tot wären, weil sie den falschen Aufrufen gefolgt sind."
In Damaskus häufen sich derweil anonyme Anrufe von Tonbandmaschinen mit "0000"-Kennung. Die Angerufenen werden aufgefordert, zu melden, falls sie auf "auffällige durch das Land reisende Ausländer" aufmerksam werden oder mitbekommen, wer zu Protesten aufruft. Auch wenn ein US-Student nach 15 Tagen Haft unter dem Verdacht, CIA-Spion zu sein, und vier Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters wieder aus dem Gefängnis freikamen, bleibt die Lage gespannt – nicht nur für "auffällige Ausländer".
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