Produktivkraft Kommunikation

■ Jürgen Habermas antwortet auf Fragen des Ostberliner Philosophen Hans-Peter Krüger

Hans-Peter Krüger: Vernunft ist zumindest ein, wenn nicht der Grundbegriff modernen Philosophierens. Sie ist inzwischen zum Signalbegriff der Weltpolitik geworden, auch zur Aufforderung, neue Handlungsweisen in den industrialisierten Gesellschaften zu entwickeln, angesichts der ökologischen Probleme wie auch des Gefälles zwischen entwickelten und sich entwickelnden Ländern. Was ist für Sie „Vernunft“, und wie unterscheidet sich Ihre Vernunftauffassung von anderen Vernunftkonzeptionen?

Jürgen Habermas: Ich weiß nicht, ob ich die Präsuppositionen Ihrer Frage richtig verstehe. Lassen Sie mich vorausschicken, daß ich skeptisch bin gegen zu schnelle Verbindungen zwischen Theorie und Weltgeschichte. In komplexen Gesellschaften schieben sich zwischen Theorie und Praxis so viele Mittelglieder, daß wir jedem Philosophen, der heute noch mit Schlüsselattitüde (Gehlen) auftritt, mißtrauen müssen. Hegel glaubte noch, daß sich in seiner Theorie die Wahrheit des historischen Verlaufs gleichsam entschlackt zusammenfaßte - die große Philosophie als Schale der Wahrheit. Heute sind die Wahrheiten zerstreut über viele Diskursuniversen, die nicht mehr in eine Hierarchie zu bringen sind; aber in jedem dieser Diskurse suchen wir hartnäckig nach Einsichten, diealle überzeugen könnten.

Die Vernunft ist das Vermögen möglicher universaler Verständigung geblieben - im Konditionalis. Aber nicht nur das, sie existiert auch schon in der Geschichte - in den Errungenschaften sozialer Bewegungen, zum Beispiel in den Institutionen und den Grundsätzen des demokratischen Verfassungsstaates. Die Probleme, die Sie erwähnen, enthüllen ein Stück existierender Unvernunft und sind damit ein stummer Protest gegen das erzeugte Elend in der Dritten Welt, gegen die erzeugten Risiken einer aberwitzigen Rüstung und einer kaum beherrschbaren atomaren Energie, gegen die aggressive Vernichtung der natürlichen Ressourcen, der Tierarten, der ökologischen Gleichgewichte, der Naturschönheit. Damit stehen Gattungsinteressen auf dem Spiel, nicht nur Klasseninteressen. Nicht weniger schlimm ist freilich die Entrechtung und Entwürdigung des machtlosen einzelnen, der ethnischen Minderheit, des politischen Gegners. Die Vernunft ist dazu da, dieses Negative zur Sprache zu bringen, dem im Schmerz Verstummten unsere Stimme zu leihen, das Unvernünftige „zur Raison zu bringen“ - in der Opposition gegen das existierende Unvernünftige verliert dieser Ausdruck alles bloß Autoritäre.

Krüger: Im Westen scheint die totale Vernunftkritik während des letzten Jahrzehnts an Aufschwung gewonnen zu haben. Diese totale Vernunftkritik unterstellt häufig, Vernunft sei an die Macht gekommen: Vernünftige Aufklärung, die schon theoretisch in einer Orientierung auf Totalität bestehe, schlage bei ihrer praktischen Verwirklichung zwangsläufig ins Totalitäre, in demokratiefeindliche Machtstrukturen, um. Die Beweislast, die diese Kritiker für ihre Unterstellung abtragen müßten, haben sie wohl kaum übernommen. - Wie widerstehen Sie dieser totalen Vernunftkritik? - Einer Ihrer Aufsätze heißt programmatisch Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen.

Habermas: Jene Vernunftkritik, wie sie von den Neuen Philosophen und einigen französischen Poststrukturalisten ausgegangen ist, überschlägt sich und entwertet die Mittel der Kritik selber - sie wird sehenden Auges aporetisch. Damit will ich keineswegs die großen Leistungen beispielsweise der Foucaultschen Machtanalyse leugnen. Aber bei manchen der Gefolgsleute bleiben nur noch die falschen Prämissen, unter Abzug ihrer produktiven Folgen, übrig. Was nämlich in diesen Kreisen als „Vernunft“ denunziert wird, ist lediglich die zum Ganzen aufgeplusterte Zweckrationalität, eine auf Selbstbehauptung sich versteifende Subjektivität. Manchmal reibt man sich die Augen - als sei die ehrwürdige Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft ganz umsonst gewesen. Horkheimer und Adorno sprechen von „instrumenteller Vernunft“ - ein ironischer Ausdruck, der besagt, daß Max Webers Zweckrationalität heute droht, den Platz der Vernunt zu usurpieren - und darum totalitäre Konsequenzen zu erzeugen, beispielsweise in einer staatlichen Bürokratie, die sich fälschlich für das Zentrum und die Spitze der Gesellschaft hält.

Krüger: Es bahnt sich inzwischen eine Rezeptionswelle Ihrer Schriften auch in unseren Ländern an. Sie haben im Juni 1988 erstmals offiziell einen Gastvortrag in Halle über Motive nachmetaphysischen Philosophierens gehalten. Auch Ihre Schriften werden nun endlich schrittweise bei uns erscheinen. Ihnen stehen Gastvorträge in Moskau bevor. Sehen Sie einen Bezug zwischen Ihrer kommunikationsorientierten Philosophie- und Gesellschaftstheorie und der Forderung nach einem „neuen Denken“ in der Weltpolitik sowie den in der Sowjetunion begonnenen Reformen, die unter den Stichworten „Perestroika“ und „Glasnost“ bekannt geworden sind?

Habermas: Nun, Sie wissen, daß ich in der Tradition des „westlichen Marxismus“ groß geworden bin - so hat jedenfalls Merleau-Ponty einmal die auf Gramsci, Lukacs, Korsch, Horkheimer und andere zurückgehenden hegel-marxistischen Strömungen genannt. Ich habe freilich versucht, mich von dem theologischen Weltbild freizumachen, das meines Erachtens in den kryptonormativen Annahmen einer materialistischen Geschichtsphilosophie immer noch drinsteckt. Statt auf die Vernunft der Produktivkräfte, letztlich also der Naturwissenschaft und der Technik, vertraue ich auf die Produktivkraft der Kommunikation, die sich am deutlichsten in sozialen Befreiungskämpfen äußert. Diese kommunikative Vernunft hat sich auch in den bürgerlichen Emanzipationsbewegungen zur Geltung gebracht - in den Kämpfen für Volkssouveränität und Menschenrechte. Sedimentiert hat sie sich in den Einrichtungen des demokratischen Rechtsstaates und in den Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit. Der Sowjetmarxismus hat sich den emanzipatorischen Gehalt dieser historischen Errungenschaften, statt ihn freizusetzen und zu radikalisieren, nicht auf ganzer Breite angeeignet.

Soweit Gorbatschows Reformen darauf abzielen, das Versäumte nachzuholen und einen demokratischen Pluralismus auf der Grundlage eines unbürokratischen Sozialismus durchzusetzen, könnten sie in der Tat so etwas wie die Produktivkraft Kommunikation entfesseln. Dabei denke ich nicht an Mikrochips und die Verbesserung von Informations- und Entscheidungsstrukturen, obwohl auch das wichtig ist. Wenn Sie mich fragen, was einem aus der Sicht einer „Theorie des kommunikativen Handelns“ zu Perestroika einfällt, dann denke ich zunächst an die Revitalisierung einer ausgetrockneten politischen Öffentlichkeit.

Krüger: Sie decken einerseits progressive Potentiale moderner Gesellschafts- und Kulturentwicklung auf und verkennen andererseits nicht, daß sich dazu auch im Widerspruch empirisch massenhaft andere Realitäten durchgesetzt haben. Für die Erklärung dieser Differenz verweisen Sie - wie auch oben in Ihrer Antwort - auf klassenspezifische Mechanismen, durch die nur gewisse Kulturpotentiale in einseitigen Ausprägungen realisiert wurden und werden. Gelegentlich unterscheiden Sie auch zwischen zwei Modernisierungspfaden in unserem Jahrhundert, dem kapitalistischen und dem bürokratisch-sozialistischen. Da wir beide keine Politiker sind, brauchen wir hier keine derzeit politisch verhandlungsfähigen Formulierungen zu finden. Ich weiß, daß Sie unseren Modernisierungspfad nicht näher untersuchen, sondern den in Ihrer Gesellschaft. - Aber im sowjetischen Reformprogramm der letzten Jahre taucht immer häufiger die Formulierung auf, es gehe nunmehr um einen „modernen Sozialismus“, woraus auf einen bisher vor oder frühmodernen Sozialismus geschlossen werden kann. An letzterem wird das Vorherrschen bürokratisch-administrativer Entscheidungsstrukturen kritisiert. So verschieden unsere Gesellschaften zweifellos sind, wie charakterisieren Sie jene spezifisch sozialen Selektionsmechanismen, durch die soziokulturelle Potentiale verkehrt, destruktiv oder einseitig realisiert werden?

Habermas: Das Sozialstaatsprogramm, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Gesellschaften unseres Typs durchgesetzt hat, ist ein relativer Erfolg. Es bedeutet einerseits eine spürbare Kompensation der mit abhängiger Arbeit verbundenen Risiken und Belastungen, andererseits eine gewisse Disziplinierung des zugleich gehegten kapitalistischen Wachstums. Gewiß, der Geburtsfehler des vom kapitalistischen Arbeitsmarkt verhängten Naturschicksals ist vorerst nicht beseitigt, nur kosmetisch behandelt. Aber im Augenblick sieht es so aus, als ob die sozialistische Linke im Westen weitere Fortschritte vor allem deshalb nicht erzielt, das Erreichte nicht einmal stabilisieren kann, weil alle sozialistischen Perspektiven, alle unsere ohnehin schon defensiv gewordenen Entwürfe durch eine Art von Kontaktschuld entwertet sind. Das desolate, zum Teil katastrophale Bild, das der real existierende Sozialismus seinen Bevölkerungen und den westlichen Fernsehzuschauern bietet, dementiert, so scheint es, von vornherein die historische Möglichkeit des Sozialismus. Ich meine einen Sozialismus, der den gesellschaftlichen Reichtum und die politischen Freiheiten sozialstaatlicher Massendemokratien einbringen würde in den radikalen Pluralismus und die autonomen Praktiken einer Gesellschaft, die es verdient, fundamentaldemokratisch genannt zu werden. Ich habe das Gefühl, daß sich eine solche Perspektive überhaupt erst wieder öffnen könnte, wenn Gorbatschows Projekt Erfolg hätte.

Die außenpolitischen Randbedingungen sind dafür so ungünstig nicht; die westlichen Regierungen scheinen zu begreifen, daß ein Scheitern der Reformvorhaben nicht in ihrem Interesse liegen kann. Eine Reform müßte freilich bedeuten, daß der bürokratische Sozialismus zu einer Selbstkorrektur fähig ist, die ein Äquivalent darstellt zur schon vollzogenen sozialstaatlichen Selbstkorrektur des Kapitalismus. Ich sage ein Äquivalent, denn der sozialdemokratische Kompromiß war nur möglich und nötig innerhalb des institutionellen Rahmens einer spätkapitalistischen Gesellschaft. Ich weiß viel zu wenig von sowjetischen Verhältnissen, um angeben zu können, wie das Äquivalent in der UdSSR aussehen müßte. Die Details wird man ohnehin durch trial and error herausfinden müssen; aber die innovativen Weichenstellungen sind wichtig. Eines wird man sogar vom Beispiel der Sozialstaatsentwicklung lernen können: Diese betraf ja nicht nur einen Umbau in der Ökonomie, sondern wäre ohne den Umbau des Staates zur parteienstaatlichen Massendemokratie nicht möglich gewesen.

Das Nullsummenspiel zwischen etwas mehr Markt und wieder etwas mehr Plan wird in den realsozialistischen Ländern schon seit längerem gespielt - ohne großen Erfolg. Gewiß, Dezentralisierung der Entscheidungen, besseres Management, mehr Know-how, größere Flexibilität usw. - das alles ist wichtig. Aber Perestroika müßte vor allem die Reform des politischen Systems betreffen, müßte heißen: das Übel an der Wurzel packen, an der bürokratischen Herrschaft der Nomenklatura. Glasnost müßte wirklich etwas mit Transparenz und Öffentlichkeit zu tun haben, vor allem im Politischen, müßte heißen: Vitalisierung der Öffentlichkeit, Pluralisierung der Meinungsbildung, breite Partizipation an den Entscheidungsprozessen, kurz: Entfesselung der Produktivkraft Kommunikation. Die Freisetzung der spontanen Kräfte von unten darf nicht nur, nicht einmal in erster Linie, die Form von breitgestreuten Incentives fürs Eigeninteresse annehmen; sie muß zur Befreiung gelähmter politischer Energien führen. Die administrative Macht kann sich nicht selbst begrenzen, sie muß - wie Hannah Arendt sagt - von der kommunikativ erzeugten Macht derer, die gegenseitig ein Interesseaneinander nehmen, begrenzt werden.

Krüger: Eine Schlüsselfrage für die progressive Realisierung moderner Möglichkeiten ist, was Sie eine „neue Gewaltenteilung“ zugunsten von Öffentlichkeit nennen. Was heißt dies im Unterschied zur alten Gewaltenteilung?

Habermas: Sie und Ihre Kollegen, Herr Krüger, sprechen von gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsweisen. Damit meinen Sie, daß komplexe Gesellschaften in verschiedener Weise über Kommunikationsmedien zusammengehalten und gesteuert werden. Ich selbst unterscheide nun von den Steuerungsmedien des Tauschwerts und der administrativen Macht das Medium, aus dem solche Spezialkodes erst ausdifferenziert worden sind: die Umgangssprache, das Medium unserer Alltagspraxis, über das die kommunikativen Handlungen laufen. Diese Kommunikation über Wertorientierungen, Ziele, Normen und Tatsachen bildet eben auch eine Ressource der gesellschaftlichen Integration. Neben den übers Eigeninteresse laufenden Medien Geld und Macht bildet Verständigung oder Solidarität eine dritte und grundlegende Ressource.

Die Teilung der Staatsgewalten ist das normative Fundament des Rechtsstaates. In Analogie dazu können wir von einer Teilung der drei Gewalten der gesellschaftlichen Integration sprechen, um uns über das normative Fundament einer selbstorganisierten Gesellschaft klarzuwerden. Dabei sollten wir nicht mehr auf die blaß gewordenen Utopien der Arbeitsgesellschaft, also in erster Linie auf Ideen der Arbeiterselbstverwaltung, setzen. Die Geld- und Machtkreisläufe von Ökonomie und öffentlicher Verwaltung müssen eingedämmt werden durch, und sie müssen zugleich getrennt werden von den kommunikativ strukturierten Handlungsbereichen des privaten Lebens und der spontanen Öffentlichkeit: Sonst werden sie die Lebenswelt noch mehr mit ihren dissonanten Formen der ökonomischen und bürokratischen Rationalität überziehen. Eine politische Kommunikation, die den Verständigungsressourcen der Lebenswelt entspringt und nicht durch verstaatlichte Parteien erst hergestellt wird, muß die Grenzen der Lebenswelt schützen und deren Imperativen, also den gebrauchswertorientierten Forderungen, Nachdruck verschaffen.

Krüger: Eines der schwierigsten Probleme in modernen gesellschaftlichen Entwicklungen besteht darin, demokratische Verhältnisse zu schaffen und diese entwicklungsfähig zu halten. In den antifaschistisch -demokratischen Lehren, die Sie gerade aus der deutschen Geschichte immer wieder gezogen haben, stellen Sie eine doppelte Aufgabe: politische Demokratie zur sozialen Demokratie erweitern und zugleich durch politische Kultur sichern. Was bedeuten für Sie „soziale Demokratie“ und „politische Kultur“?

Habermas: Bei uns kann nur die Fortsetzung eines reflexiv gewordenen Sozialstaatsprojektes zu so etwas wie sozialer Demokratie führen, zur endgültigen Neutralisierung der unerwünschten Folgen des kapitalistischen Arbeitsmarktes, zur Abschaffung der realen Arbeitslosigkeit. „Reflexiv werden“ soll aber auch heißen, daß man Konsequenzen zieht aus Erfahrungen im Umgang mit dem Medium der Macht, deren sich die sozialstaatlichen Politiken für ihre Eingriffe ins gesellschaftliche Substrat bedienen müssen: Diese administrative Macht ist kein passives, eigenschaftsloses Medium; mit ihr kann man keine neuen, erst recht keine emanzipierten Lebensformen schaffen. Die müssen sich spontan bilden und selbst transformieren können. Spontane Lebensformen sind auch das Unterfutter der politischen Kultur. In einer Demokratie, die diesen Namen verdient, müssen die rechtlich institutionalisierten, die „verfaßten“ politischen Willensbildungsprozesse - einschließlich der Wählervoten - rückgekoppelt sein an (und porös bleiben für) eine nicht verfaßte, möglichst argumentativ gesteuerte Meinungsbildung. Dazu bedürfte es eines Netzes freier Assoziationenunterhalb der Organisationsebene verstaatlichter Parteien, vermachteter Medien, abhängiger Interessenverbände usw.

Ich kann das nicht weiter ausmalen, denn eine solche Vision kann nur in dem Maße Realitätsgehalt gewinnen, wie die öffentlichen Kommunikationsströme eingebettet sind in eine politische Kultur, die demokratische Grundüberzeugungen lautlos in die Köpfe und die Herzen aller einsenkt und zur täglichen Gewohnheit macht. Eine solche von Klassenstrukturen abgelöste Kultur läßt sich nicht administrativ herstellen. Die Muster des zivilen Umgangs, die Toleranz gegenüber dem anderen als einem, der ein Recht darauf hat, ein anderer zu bleiben, die Selbstverständlichkeiten eines sensiblen, geradezu nervösen Egalitarismus ergeben sich aus vielfältig verschlungenen Prozessen. Da gibt es große nationale Unterschiede. In Holland oder in den skandinavischen Ländern begegnet man schon einem Stück fundamentaldemokratischen Alltagslebens, von dem jeder weiß, daß es sich nicht organisieren läßt. Politische Kulturen brauchen ein günstiges Klima - kein Preußenklima.

Krüger: In den Gesamtzusammenhang Demokratie und neue Gewaltenteilung gehört auch die Bestimmung des Intellektuellen. Sie gelten international als solcher und haben selbst eindrucksvoll über die Rolle des Intellektuellen geschrieben. Ich denke zum Beispiel an Ihren Heine-Aufsatz über die Schwierigkeiten der Anerkennung dieser Rolle, insbesondere in der deutschen Geschichte. Sie verstehen sich auch selbst als Intellektueller, wenngleich in dem bescheidenen Sinne Ihrer Dankesrede bei der Entgegennahme des Geschwister-Scholl-Preises 1985 im Münchener Rathaus. Damals sagten Sie: „Wohl dem Land, das nur Intellektuelle nötig hat.“ Die Anspielung auf Brechts Galilei war deutlich: Wohl dem Land, das keine Helden nötig hat. - Was heißt es für Sie, heute Intellektueller zu sein?

Habermas: Nun ja, eine Intellektuelle - heute sind es Gott sei Dank auch Frauen, wie man an Christa Wolf sieht - ist eine, die sich kompetenzfrei veranwortlich fühlt für Dinge, die sie nicht nur persönlich etwas angehen. Von ihren professionellen Kenntnissen macht sie in der politischen Öffentlichkeit einen sozusagen nebenberuflichen Gebrauch. Die Intellektuellen sind heute nicht mehr nur Schriftsteller oder Philosophen wie Sartre und Adorno, sondern Experten, die etwas von Ökonomie oder Gesundheitsfragen oder Atomenergie verstehen. Sie wissen, daß sie keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit haben, daß sie sich auch mit ihren Gegenexpertisen oder ihren moralisch-politischen Gegenmeinungen irren können. Aber diese Spezies ist heute notwendiger denn je, um das Spektrum der strittigen Themen und Gründe zu erweitern und die politische Kommunikation offenzuhalten. Für den einzelnen ist das nicht nur ein Vergnügen; ich empfinde die Intellektuellenrolle oft als störend und irritierend für meine wissenschaftliche Arbeit. Im übrigen gehört etwas dazu, was uns Intellektuellen ja oft fehlt - Selbstkritik; sonst degeneriert das Geschäft leicht zur narzißtischen Selbstdarstellung eines Medienintellektuellen.

Krüger: Sie haben sich seit 1985 mehrfach publizistisch engagiert gegen Versuche in ihrem Land, die faschistische Vergangenheit und die daraus resultierende besondere Verantwortung in der Gegenwart zu „entsorgen“. Ich erinnere an Ihre Rolle im sogenannten „Historikerstreit“, der uns hier aber nicht als Ereignis innerhalb der Bundesrepublik interessiert. Allgemeiner relevant scheint mir zu sein, daß Sie gegenüber der Wiederbelebung deutschen Nationalbewußtseins vom „Verfasungspatriotismus“ in ihrem Land sprechen. Dieser mag ein noch labiles Übergangsphänomen sein, aber wohin? - Sie stellen schon seit Mitte der siebziger Jahre die Frage nach „posttraditionalen gesellschaftlichen Identitäten“, die über die Bedeutung nationaler Identifikation im 18. und 19.Jahrhundert heute hinausführen könnten. Was verstehen Sie unter einer solchen postnationalen Identität?

Habermas: In beiden Teilen Deutschlands ist der Nationalismus ausgereizt. Aber wir im Westen, habe ich das Gefühl, können relativ leichten Herzens auf Wiedervereinigungsträume verzichten. Die Bürden der Nachkriegsentwicklung waren nicht symmetrisch zwischen West und Ost verteilt. Deswegen mögen bei Ihnen andere Sentiments herrschen. Im 'Spiegel‘ habe ich im vergangenen Jahr das Plädoyer von Rolf Schneider für eine Wiedervereinigung gelesen; das erinnerte mich an eine geographische Differenz der Perspektiven, die wir leicht vergessen. Auch den moralischen Aspekt der ungleichen Lasten leugne ich nicht. Gleichwohl sehe ich nicht, wer oder was die kulturelle Einheit der Nation bedrohen sollte. Wir studieren doch Kant keinen Deut anders, seitdem Königsberg Kaliningrad heißt. Was sollte uns, den Nachgeborenen, da „ver loren„gegangen sein?

Allgemein gesehen befinden sich auch die westeuropäischen Staatsnationen schon auf dem Wege zu postnationalen Gesellschaften. Das multiethische Element wird immer stärker werden. Die beiden Weltmächte waren seit eh und je multiethische Gebilde - die Sowjetunion bekommt das ja jetzt drastisch zu spüren. Da bietet es sich an, eine politische Kultur, die, wie Rousseau sagt, die „Verankerung der Gesetzte in den Sitten“ ermöglicht, als Ebene der normativen Integration ernster zu nehmen als 75 Jahre mehr oder weniger unglückliche staatliche Einheit. Die Westorientierung der Bundesrepublik hat ja nicht nur einen militärischen und einen ökonomischen Sinn. Der normative Sinn, nämlich die vorbehaltlose Zuwendung zum moralischen Universalismus der westeuropäischen Aufklärung, ist der Westorientierung bester und wichtigster Teil - vielleicht der einzige Garant dafür, daß der Trend unserer Nachkriegsentwicklung nicht umgekehrt wird. Wir haben nach 1945 mit den schwarzen Attraktionen unserer Überlieferung, mit dem, was Lukacs die „Zerstörung der Vernunft“ genannt hat, gebrochen. Lassen wir doch einfach mit Lessing und Kant, Freud, Kafka und Brecht unsere besten Traditionen fortsetzen, statt auf Klages, den späten Heidegger oder C.Schmitt zurückzufallen - oder gar auf die geistige Traditionslinie des Bismarck-Reiches. Wenn sich zwischen den beiden deutschen Staaten eine vitale Konkurrenz darum,wer das beste aus unserem gemeinsamen Erbe macht

-eine intellektuelle Konkurrenz, keine von Parteiführern, Regierungsbeamten und Museumsgründern - entwickeln könnte auf deutschem Boden gab es schon Schlimmeres, als eine solche Konkurrenz zwischen der Bundesrepublik und der DDR sein würde, meinen Sie nicht?

Wir entnehmen diesen Beitrag - erheblich gekürzt - 'Sinn und Form‘ November/Dezember 1989