Press-Schlag: Die Fußkranken der Leichtathletik
■ In Rom schnuppern die Geher mal kurz am Ruhm
Auf den beiden riesigen Monitoren des Olympiastadions hatte man ihn auf seinem Weg verfolgen können, und als dann Maurizio Damilano leibhaftig aus dem dunklen Tunnel unter der Tribüne kam und auf die rote Tartanbahn einschwenkte, empfing ihn ein gewaltiger Aufschrei. 65.000 Kehlen dankten ihm für Italiens erste Goldmedaille, auch die nach ihm erscheinenden Athleten profitierten von der allgemeinen Euphorie, die bereits zuvor durch die beiden Weltrekorde von Ben Johnson und Stefka Kostadinova entfacht worden war. Jeder einzelne wurde beim Eintreffen heftig beklatscht. Soviel Aufhebens wird sonst um die Geher nicht gemacht. „Normalerweise eine Randdisziplin“, so beschreibt Wolfgang Wiedemann diese Sportart. Selbst der 30jährige Deutsche Meister von 1986 bekam in Rom als 28. von 35 Teilnehmern beim 20–Kilometer–Gehen noch seinen Teil von der Gunst des Publikums. Klar, daß er das genießt, wo er doch sonst eher Spott und Unverständnis spürt; wenn er Glück hat, wird er nur milde belächelt. „Wackler“, „Watschler“, die Kommentare kennt er. „Die Fußkranken der Leichtathletik“, witzelt ein Kollege beim Start der Geher. Die finden natürlich gar nicht, daß sie albern aussehen, wenn sie im Stakkato Hüfte und Hintern hin und her schwingen und dabei staksig ein Bein vor das andere setzen; dazu kommen die schnellen Schwünge mit den angewinkelten Armen. „Eigentlich ein natürlicher Bewegungsablauf“, nennt das Alfons Schwarz (33). Der mehrfache Meister spürt wohl die Skepsis des Gesprächspartners: „Gehn Sie einfach mal richtig schnell. Es sieht nur so aus durch die Geschwindigkeit.“ Was unsereins jeden Tag so ganz unbewußt macht, ist ja gar nicht so einfach: „Gehen“, definiert Regel 62 des Leichtathletikverbandes, „ist die Fortbewegung durch Schritte, bei welcher der Kontakt mit dem Boden nicht unterbrochen werden darf.“ Bevor der hintere Fuß abgehoben wird, muß der vordere schon wieder unten sein - und dabei noch „wenigstens einen Moment gestreckt“. Das ist die Technik, der Rest ist Ausdauer und Beweglichkeit. Schon einer wie Wiedemann, der mit 1:28,07 Stunden ganze acht Minuten länger unterwegs war als Damilano, kommt „locker auf 20 Stunden Training die Woche“. Verteilt auf sieben bis acht Einheiten nimmt er fast 200 Kilometer unter die Sohlen: Alle fünf Wochen geht er praktisch einmal von Flensburg nach München. Deswegen nervt ihn auch, daß die Leistung der Geher „nicht gewürdigt wird“. Die 50 Kilometer, die zweite Wettkampfdistanz, hält er für „schwieriger als Marathon“. Und wenn er dann beim Training durch den Wald wetzt, muß er sich von Spaziergängern noch anmachen lassen. Kein Wunder, daß es den Gehern in Rom gefällt. Im Park der Villa Borghese habe er trainiert, sagt Alfons Schwarz, und kein Mensch habe gelacht oder einen blöden Spruch gemacht. Man spüre halt, daß die Italiener ein anderes Verhältnis zu Ausdauersportarten hätten. Einer wie Damilano lebt als Profi, die beiden Deutschen sind schon froh über „ein paar Mark von einer Sportschuhfirma“. Wenn hierzulande Meisterschaften stattfinden, dann ohne Öffentlichkeit, „Sonntag morgens um neun auf dem freien Feld“ (Schwarz). „Heute“, sagt Wiedemann, „sind die Marathonläufer die Cracks.“ Das muß nicht so bleiben. In den USA, stets Vorreiter für sportliche Moden, gilt derzeit „Walking“ als der neue Hit. So könnte demnächst, nach Aerobic und Jogging, die nächste Welle über den großen Teich schwappen. Und den alten Kontinent zum Wackeln bringen. Thömmes
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