piwik no script img

■ Press-Schlag„Unschuld ist heute eine Bringschuld“

„Mundus vulti decipi, ergo decipiatur.“ (Die Welt will betrogen werden, also soll sie betrogen werden.)

Lateinisches Sprichwort

Heute abend, 20.45 Uhr, Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Stuttgart: Startschuß zum 100-m-Finale der Frauen. Eine wird fehlen – die Titelverteidigerin, Katrin Krabbe. Wegen Dopings gesperrt. Und doch ist sie in Stuttgart dabei. Der lange, dunkle Schatten, den die große Blonde auf diese Disziplin geworfen hat, läuft mit – auf Bahn neun. Ob man Mitleid haben soll, Mitleid mit einer Sünderin? Die Frage empört Gail Devers, die Olympiasiegerin, ganz außerordentlich. Sie kümmere sich ausschließlich um sich selbst, damit habe sie genug zu tun, wer in welchem Zustand neben ihr laufe oder nicht laufen dürfe, sei ihr schnurzpiepegal. Punkt.

Abwegig ist die Frage keineswegs. Man könnte es dem gebrannten Kind aus Neubrandenburg nicht verübeln, wenn es mit dem Finger auf die Muskelmasse der Finalistinnen des heutigen Abends zeigt und fragt: „Warum gerade ich?“ 1988 in Seoul hatte Florence Griffith-Joyner mit ihren langen Fingernägeln die Laufbahn nicht nur zum Laufsteg erkoren, sondern in exorbitanten 10,49 Sekunden auch jenes Mißtrauen gesät, aus dem die Mißgunst für ihre Nachfolgerinnen erwuchs. Zurecht: 1991 in Tokio gipfelte der Sprint im Modell-Duell der Schwarz-Weiß-Malerei. Katrin Krabbe lief monatelang hinter Merlene Ottey her, war aber im Finale weit voraus. Wie das? Sie war kurz vorher im Trainingslager in Asien, fernab der DLV- Mannschaft. „Wir haben alles gemacht wie in den letzten Jahren auch“, sagte Trainer Thomas Springstein vor laufenden Kameras.

Und heute abend? „To be top without doping“, oder „No hope without dope“? Die Favoritinnen: Gwen Torrence, 28jährige Mutter, gewann bei den Olympischen Spielen in Barcelona über 200 m Gold, worauf Bob Kersee, Trainer von 100-Meter-Olympiasiegerin Gail Devers und 1988 von „Flo-Jo“, wohl dachte, daß Angriff die beste Verteidigung sei: Doping habe Torrence so schnelle Beine verliehen. Ihre Bestzeit: 10,86 Sekunden. Gail Devers, die so gern über ihre Leidensgeschichte und die beinahe amputierten Füße, aber so ungern über Doping spricht, versichert heute, Gwen und Gail seien „the best friends“. Was so weit gehe, daß sie sogar miteinander sprächen.

Die Mißgunst zwischen Merlene Ottey und Katrin Krabbe war vor zwei Jahren selbst am Bildschirm physisch spürbar. Inzwischen ist die Sprint-Oma (33) aus Jamaika rund 40mal unter elf Sekunden gelaufen, doch bei internationalen Titelkämpfen dem großen Erfolg stets hinterher. Ihre persönliche Bestzeit: 10,79. Ihr schnellstes Jahr: 1990. Da gewann sie alle 36 Endläufe. Ihre größte Enttäuschung: die Niederlage vor zwei Jahren gegen Katrin Krabbe. Weiter dabei: Irina Priwalowa (Rußland), die 1991 Bronze gewann, Bestzeit: 10,82.

Sie alle (und nicht nur sie) haben eines gemeinsam: einen Körper wie ein Mann, Muskeln so trocken, als ob man sie ausgewrungen hätte. „Muskelauf- und Fettabbau im unteren Bindegewebe, das ist exakt die Wirkung von Clenbuterol“, erklärt der Heidelberger Molekularbiologe Professor Werner Franke. „Das Fett fiel im wahrsten Sinne des Wortes vom Körper ab“, schilderte ein amerikanischer Bodybuilder dem Ehepaar Franke/Berendonk plastisch die anabole Veränderung dank des Kälbermastmittels. Das Mißtrauen läuft in der Leichtathletik mit. Spätestens seit Ben Johnson in Seoul 1988 alle Fans ihrer Illusion eines sauberen Sport beraubte.

„Unschuld ist heute eine Bringschuld“, sagt Professor Franke. 35 Spitzenathletinnen und -athleten sind in diesem Jahr des Dopings überführt worden, 124 seit Tokio '91. Wer als clean gelten will, muß sich outen: Laufende Kontrollen und eidesstattliche Erklärungen als Schutz vor öffentlichem Mißtrauen. Hochspringerin Heike Henkel hat an Eides statt erklärt, sie habe nie gedopt und werde nie zu unlauteren Mittelchen greifen.

Auf derlei juristisch hasenreine Versicherungen warten wir von den Athletinnen, die heute zur Miss-Wahl der Laufbahn tänzeln, bisher vergebens. Franke behauptet, er könne nachweisen, daß die WM-Titel in nahezu allen Disziplinen der Frauen seit den ersten Weltmeisterschaften, 1983 in Helsinki, durch die Einnahme von Pharmaka begünstigt wurden. Man notiere: 100 m, Helsinki 1983: 1. Marlies Göhr. In diesem Jahr hat die DDR-Sprinterin 910 Milligramm Oralturinalbol geschluckt, im Jahr drauf waren es 1.405 mg, was der Menge entspricht, die Ben Johnson konsumierte.

Dritte in diesem Endlauf wurde Diane Williams. Die Amerikanerin hat sich als eine der wenigen geoutet: „Ich bekam eine tiefe Stimme, (...) oft war ich eine Nymphomanin.“ Die anabolischen Nebenwirkungen für die US-Athletin sind heute noch diabolisch: starkes Körperjucken, Heiserkeit, erhöhter Sexualtrieb, Depressionen, Vaginalblutungen und Schmerzen im Unterleib. Chuck DeBus, ihr Trainer, hatte sie mit Dianabol versorgt. Wohl nicht nur sie, argwöhnt Brigitte Berendonk in ihrem Buch „Doping Dokumente“: „DeBus, immer zum Doping bereit, war lange Zeit auch der Trainer der Sprinterin Merlene Ottey, die jetzt im Doping-Paradies Italien lebt.“

„Nur zehn bis 15 Nationen engagieren sich so stark im Kampf gegen das Doping wie wir“, stellt der neue DLV-Präsident, Professor Helmut Digel, fest, „viele Länder sind finanziell gar nicht in der Lage, aufwendige Trainingskontrollen durchzuführen. Da sind wir eindeutig benachteiligt.“ Ob die Braunschweigerin Melanie Paschke sich fürs Finale heute abend qualifizieren konnte (nach Redaktionsschluß), ist fraglich. Das jüngste Sternchen am deutschen Sprinter-Himmel zieht die Doping-Mauer bei 11,00 Sekunden: Wer schneller liefe, laufe auch mit chemischen Rückenwind. Cornelia Heim

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen