■ Press-Schlag: Die letzte Minute
Ein berühmter Mensch, der den Fußball immer sehr einfach sah, hat einmal die fundamentale Entdeckung gemacht, daß ein Fußballspiel 90 Minuten dauert. Jahrzehntelang bemühten sich Heerscharen von Kleingeistern, die tiefe Wahrheit, die in diesem simplen Satz steckt, mit Hinweisen auf Nachspielminuten, Verlängerung und effektive Spielzeit zu unterminieren. Vergeblich! Ein Herberger läßt sich nicht verwässern. Die 90. Minute, das ist die Schlußminute – 60 Sekunden, die die Fußballwelt erschüttern.
Anstatt die psychologische Tragweite des ersten Tores zu analysieren, wie es die Schnarchsäcke vom VfB Stuttgart gerade probieren, sollte man lieber untersuchen, was in einem Fußballer vorgeht, wenn der Blick des Schiedsrichters immer häufiger zum Sekundenzeiger wandert. Was veranlaßt beispielsweise einen Torhüter wie Stefan Klos, bis dahin nur durch einen Elfmeter zu bezwingen, sich beim Freistoß so weit vor seinem Tor zu postieren, daß der seit Jahren als Sargnagel der brasilianischen Nationalmannschaft berüchtigte Carlos Caetano Bledorn Verri, genannt Dunga, in seinem ersten Spiel sein erstes Tor für den VfB Stuttgart zum 2:2 gegen Dortmund schießen kann? Welch geheimer Trieb bringt die Spieler des SC Freiburg dazu, plötzlich ihre Mauer zu öffnen und den harmlosesten Freistoß des ganzen Spiels genau auf den Fuß des Gladbachers Pflipsen rollen zu lassen? Und was verleiht diesem Pflipsen die wundersame Fähigkeit, ausgerechnet jetzt ins Tor zu treffen? Welcher Teufel beraubt die Duisburger auf einmal jener Aufmerksamkeit, mit der sie die Bayern-Angreifer bis dahin so mühelos in Schach gehalten hatten? Benötigten die Münchner zu ihrem ersten Treffer schon die gütige Mithilfe des Linienrichters, durfte Mehmet Scholl in der letzten Minute ungehindert durch die wie vom Donner gerührte MSV-Abwehr spazieren und das 2:2 schießen. Oder Lothar Sippel, der ein ganzes Match lang nur das Dortmunder Dreß spazieren trug und plötzlich, im fälschlichen Glauben, es handle sich um die letzte Minute, den Ball unversehens ins Netz trat. Wunder biblischen Ausmaßes, deren Ursache im Dunkel der menschlichen Psyche verborgen liegt.
Ist es der Adrenalinstoß des „Alles oder Nichts“ auf der einen Seite, der die späten Tore verursacht, ist es auf der anderen Seite das Gefühl, es schon geschafft zu haben, das die Konzentration schwinden läßt, oder eher die Angst des Kickers vor der unbarmherzigen Wirkung des Herbergerschen Prinzips, die die Muskeln zur Gehorsamsverweigerung treibt? Brennende Fragen, die ihrer zügigen Aufklärung harren. Ganz klar! Ein Job für die Psychopathen vom VfB. Mayer-Vorfelder, Dieter Hoeneß, Christoph Daum, übernehmen Sie! Vielleicht springt ja dabei sogar eine Klage gegen das zweite Dortmunder Tor heraus. Matti
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