Press-Schlag: Visionen im Regentest
■ Ajax Amsterdam – AC Mailand 2:0
Die Wolken lagen so grau und schwer über Amsterdam, daß der Tag überhaupt nicht zu beginnen schien. Ununterbrochen fiel in dicken Tropfen ein Regen vom Himmel, der innerhalb kürzester Zeit erbarmungslos jeden durchnäßte, der sich nur vor die Tür wagte. Wie sollte angesichts dieser meteorologischen Depression auf dem matschigen Spielfeld des „Olympisch Stadion“ der „Ajax-Zauber“ entstehen, von dem im Moment in Amsterdam soviel die Rede ist? Denn schließlich, so hat Klub-Präsident Michael van Praag verkündet, soll der holländische Meister nicht einfach nur gewinnen, sondern mit „gewagtem Offensivfußball“ eben jenen Zauber entstehen lassen.
Das verweist natürlich immer noch auf die große Zeit des Klubs Anfang der 70er Jahre und den Glanz, den Cruyff, Krol, Neeskens und Rep damals verbreiteten. Unausgesprochen steckt darin aber auch die Enttäuschung, im Meisterpokal seit 1980 nicht mehr über die zweite Runde hinausgekommen zu sein. Also jetzt! Das Spiel gegen den AC Mailand in der Champions League sollte den Beweis liefern, daß das Konzept des Vereins auch auf höchstem Niveau wieder tauglich ist.
Doch der Regen schien die Vision vom schönen und erfolgreichen Fußball hinwegzuschwemmen. In der ersten Halbzeit mühten sich die Ajax-Angreifer hilflos durch den Matsch in Milans Spielhälfte. Von Zauber war wenig zu spüren. Das Spiel über die Flügel, das Ajax-Coach Luis van Gaal seinen Spielern so dringend aufgegeben hatte, war fast vergessen. Während in Deutschland der letzte Außenstürmer schon vor mehr als einem Jahrzehnt ausgestorben ist, wird diese Spezies nämlich in Holland allgemein und bei Ajax besonders gepflegt. Aber Marc Overmars konnte sich auf der linken Seite bis zum Seitenwechsel nur einmal durchsetzen, der Nigerianer George Finidi auf der anderen gegen Maldini überhaupt nicht. So blieb den 45.000 Zuschauern im Regen nur die Beschäftigung, Milan-Heimkehrer Ruud Gullit jene Behandlung angedeihen zu lassen, die Stefan Effenberg aus der Bundesliga kennt. Die holländischen Fans haben Gullit seinen Blitzausstieg vor der WM noch nicht verziehen, und daß er am Vorabend einen Fernsehreporter mit den Worten „Mit dir rede ich nicht“ stehen ließ, hatten auch alle gesehen. So spielte Gullit „um sein Leben“, wie van Gaal meinte. Das tat er als vorderste Spitze ganz gut, blieb aber im wesentlichen ohne Unterstützung.
Und die fiel dann völlig aus, als Ronald de Boer in der 51. Minute das überraschende 1:0 erzielte. Endlich verlor Ajax den Respekt, vergaß den Regen, ignorierte den Matsch und ließ die Vision erkennen. Nun bewies vor allem Overmars, warum die Fans ihn „Hase“ nennen, denn jetzt lief er die gegnerische Abwehr in Grund und Boden. Milan sah man an, daß mit Massaro, Tassotti, Desailly, Albertini, Costacurta, Eranio und Simone die halbe Mannschaft und damit die Kraft fehlte, das Spiel noch zu wenden. Das 2:0 durch den Finnen Jari Litmanen nach 65 Minuten besiegelte die erste Niederlage des AC Mailand im Europapokal seit dem 26. Mai 1993, als sie im Finale gegen Olympique Marseille unterlagen.
Mailands Trainer Fabio Capello deutete diese Niederlage daher gleich als „Punkt für einen Neuanfang“, während auch sein Gegenüber van Gaal das Große und Ganze im Blick behielt. „Das ist nur ein Moment auf einem langen Weg“, verkündete er. Dann erklärte er einem italienischen Journalisten: „Wissen Sie, wir spielen am Samstag gegen NAC. Die werden sie vielleicht gar nicht kennen, aber für mich ist auch dieses Spiel ganz wichtig.“ Auch seine Spieler sehen sich wohl noch nicht wieder als europäische Überflieger. Nach dem Spiel eilten sie nämlich zur Kabine von Milan und baten dort um die Trikots ihrer Gegner. Christoph Biermann
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