Press-Schlag: Die andere Dimension
■ Robert Reichel aus Calgary entflammt Frankfurter Publikum
Der Messias ist da. Davon ist jedenfalls seine gut 7.000 Leute starke Gemeinde in Frankfurt überzeugt. Sagen wir es mal ohne Superlativ, ganz schlicht: Calgary-Flames-Stürmer Robert Reichel ist der beste Eishockeyspieler, der je auf Frankfurter Eis gestanden hat. Und an guten Cracks hat es dem früheren Bundesligisten Eintracht und seiner Nachfolgeorganisation, den Löwen, nie gemangelt. Aber Reichel ist eine andere Dimension.
Keiner, der es nur bis ins Farmteam eines Klubs der NHL geschafft hat oder in Deutschland sich seine wohlverdiente Sportlerrente verdient. Reichel ist ein Top-ten-Center in der NHL, er spielt in der treffsichersten Sturmreihe der nordamerikanischen Liga. Zusammen haben Robert Reichel, Gary Roberts und Theoren Fleury letzte Saison 120 Tore geschossen, jeder exakt 40, dazu 53 Assists für den Tschechen mit deutschem Paß. Und mit 23 Jahren ist der Mann noch lange nicht auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Dieser Superstar spielt nun in der DEL für den letztjährigen Frankfurter Zweitligisten?
Schon die Ankunft am Donnerstag um 15.25 Uhr auf dem Rhein-Main-Flughafen hatte etwas Unwirkliches. Walter Langela, Geschäftsführer der Löwen-GmbH, hatte als Erkennungshilfe angegeben: „In Zivil sieht der Robert wie ein braver Konfirmand aus.“ Vielleicht sah Reichel als Konfirmand wie ein Konfirmand aus. Als er durch die Tür von Ausgang B8 zusammen mit Freundin und einem 25er-Pack Schläger tritt, kaschiert auch seine weite Lederjacke nicht seine Muskelmasse – 85 Kilogramm „Kampfgewicht“ bei einer Größe von 1,77 Meter. Diesem Mann wird so schnell keiner mehr die Messe singen.
Die Gründe für den Aufenthalt der Eishockey-Übergröße in der Eishockey-Provinz sind so simpel wie kurios. Spielergewerkschaft und Klubbesitzer der NHL tragen einen unerbittlichen Streit über einen neuen „Manteltarifvertrag“ aus, mit der Folge, daß der Spielbetrieb ruht, ja noch nicht mal angefangen hat. Wenn überhaupt, wird wohl erst ab Januar 1995 eine verkürzte Runde gespielt. Nun langweilen sich die Spieler und suchen anderweitig Beschäftigung.
Robert Reichel ist also „Zeitarbeiter“. Und eine überragende PR-Maßnahme. Der hinterlistige und zum Populismus neigende Frankfurter Eishockeychef Langela weiß das natürlich, wenn er scheinheilig die Journalisten fragt: „Findet ihr es okay, daß wir diesen Mann geholt haben?“ Denn sonst wird er nicht müde zu betonen, daß Frankfurts Konzept auf langfristigen Erfolg mit jungen Nachwuchsspielern ausgelegt ist. Nur über den Preis dieser Ausnahme von der Regel schweigt er. Er dürfte locker im sechsstelligen Bereich liegen.
Spätestens seit Sonntag abend interessiert dies in Frankfurt niemanden mehr. Der Messias hat seine Gemeinde verzückt und in Trance versetzt. Beim 2:1-Sieg der Löwen gegen den in acht Spielen hintereinander ungeschlagenen Krefelder EV avancierte er sofort zum Heilsbringer. Im ersten Drittel orientierte er sich noch, was er von Mitspielern und Schiedsrichtern erwarten kann. Nach seinem Ausgleichstor begann die andere Dimension des gnadenlosen Scorers. Reichel gegen Krefeld. Im zweiten Drittel gewann er ausnahmslos jedes Bully. Egal mit wem er an der Bande in den Clinch ging, nur Reichel kam mit der Hartgummischeibe wieder raus. Wenn ein Verteidiger partout nicht von ihm ablassen wollte, funktionierte er ihn als Sichtbehinderung gegen dessen eigenen Torhüter um.
Sogar Frankfurts russischer Trainer Pjotr Worobjew, ein strenger Vertreter des Eishockey-Sozialismus („nur das Kollektiv zählt, nicht irgendein Solist“), änderte sein Dogma – Reichel fuhr Doppelschichten und stand bis zu drei Minuten am Stück auf dem Eis. Die Eissporthalle am Ratsweg brannte, und die Fans feierten Robert Reichel Superstar mit stehenden Ovationen. Nach Spielende stürmten sie gar das Eis, um ihren Heilsbringer einmal anfassen zu können. Hockey dieser Intensität hatte in Frankfurt noch keiner gesehen. Matthias Kittmann
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