Prekär ist nur die Mittelschicht : KOMMENTAR VON RALPH BOLLMANN
So sehen also die Prioritäten der deutschen Öffentlichkeit aus: Als der Deutsche Gewerkschaftsbund gestern eine neue Studie über die Perspektiven von Uni-Absolventen veröffentlichte – Stichwort: „Generation Praktikum“ –, da reichte der große Pressesaal im Gewerkschaftshaus kaum aus, um dem Medieninteresse gerecht zu werden. Zeitgleich präsentierte die Friedrich-Ebert-Stiftung dramatische Zahlen über das Schicksal von Hauptschulabsolventen. Gerade fünf Journalisten verloren sich in einem Nebenzimmer der Bundespressekonferenz.
Diese verzerrte Wahrnehmung zeigte sich auch in der erstaunlichen Verwirrung, die sich um den Begriff „prekär“ entwickelt hat. In Frankreich und Italien bezeichnet man damit die Lage eines neuen akademischen Proletariats, die im Bonmot von der „Generation Praktikum“ seine treffende deutsche Übersetzung fand. „Prekär“ bedeutet damit: Man gehört soziokulturell zur Mittelschicht und hält an einem bürgerlichen Lebensentwurf fest. Materiell aber ist man vom sozialen Abstieg bedroht. Wohlgemerkt, die Betonung liegt auf dem Wort „bedroht“.
In der Debatte über die Unterschicht wurde der Begriff dann plötzlich auch für all jene verwendet, die bereits abgestiegen sind. Das aber ist das genaue Gegenteil von „prekär“ – und bezeichnend für die Debatte in Deutschland, das durchaus Züge einer neuen Klassengesellschaft aufweist. Die Unterschicht wird hier erst zum Thema, wenn sie ein Label verpasst bekommt, das der Mittelschicht aus ihrem selbstreflexiven Diskurs vertraut ist.
Das erweckt den irrigen Eindruck, die Probleme seien vergleichbar. So ist es aber nicht. Denn im Vergleich zu den Nichtakademikern, von denen nur noch 43 Prozent einen regulären Ausbildungsplatz finden, ist die Lage der Uni-Absolventen noch vergleichsweise kommod: Nur 4 Prozent sind hier drei Jahre nach dem Abschluss noch ohne Job. Die unbefristeten Stellen im öffentlichen Dienst, die für Akademiker früher die Regel waren, sind heute zwar rar geworden, und beileibe nicht jeder kann in seinem Traumberuf Fuß fassen. Die meisten aber finden am Ende dennoch ihren Platz. Insofern sind die Sorgen der Mittelschicht eher ein Lebensabschnittsproblem.