: Pragmatismus und Moral unvereinbar?
■ Betr.: Stolpe und die Gauck-Behörde
Betr.: Stolpe und die Gauck-Behörde
Manch einer kommt bei der Flut journalistischer Vergangenheitsaufarbeitung offenbar nicht mehr richtig zum Denken. Die Gauck-Behörde verkommt dabei zum Instrument zur Ausschaltung persönlicher Konkurrenten und politischer Gegner. Diesmal nun der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe. Nimmt man an, die Informationen in den Akten der Staatssicherheit entsprechen der Wahrheit, dann erhebt sich die Frage nach der moralischen und politischen Verantwortung der Kirche als Instituion einerseits und der von Herrn Stolpe als Person andererseits.
Der erste Teil der Frage scheint schnell beantwortet: die Kirche muß sich in der Gegenwart immer mit dem Staat arangieren, denn sie stellt zumindest in Europa keine eigenständige politische Macht mehr dar. Der zweite Teil der Frage ist angesichts der realen DDR-Geschichte für die Beteiligten schon brisanter: Welche Mittel durften die Personen beanspruchen, die mit der Realisierung des Anpassungsprozesses Kirche-Staat betraut waren. Anders ausgedrückt: Wie weit durfte pragmatische Politik gehen?
Die jetzigen Vorwürfe gegen Stolpe kommen zum großen Teil aus der Bürgerbewegung. Dabei will man anscheinend vergessen, daß sich die Opposition in der DDR im Wesentlichen unter dem Dach der (evangelischen) Kirche entwickelt hat. Es erscheint insbesondere im Zusammenhang mit der Stasi-Problematik politisch naiv zu glauben, daß in der DDR eine aktive Opposition in Konfrontation zum Staat unabhängig von der Kirche lebensfähig gewesen wäre. Herr Diestel hat vollkommen recht: Die Staatssicherheit hat gesellschaftliche Stabilität in der DDR geschaffen, und zwar indem sie durch ihren Eingriff in innere Strukturen der Gesellschaft und durch Repression gegen die Opposition gesellschaftliche Entwicklung verhinderte. Natürlich war die Stasi nicht das alleinige Machtinstrument des DDR-Staates, schließlich gab es noch einen gigantischen Apparat sich mit kommunistischen Parolen rechtfertigender Kleinbürger (SED), Jugendorganisationen, Blockparteien... Die überwältigende Mehrheit der Bürger der DDR fügte sich freiwillig in dieses System ein; auch ohne Wahlfälschung stimmten noch im Mai 1989 über 80 Prozent der Wähler für die SED- Kandidaten.
In dieser Situation führte Manfred Stolpe Gespräche mit der Staatsführung und unvermeidbar auch mit der Staatssicherheit. Dieses pragmatische Vorgehen schuf mit die Voraussetzungen für die Entwicklung einer Opposition in der DDR und sicherte, daß die politischen und sozialen Veränderungen auf friedlichem Wege erfolgen konnten. Offene Konfrontation mit dem Staat hätte mit höchster Wahrscheinlichkeit das gewaltsame, vorläufige Ende der DDR-Opposition bedeutet. Nicht das Gespräch mit seinem politischen Gegner ist moralisch verwerflich, auch nicht gemeinsame Aktionen bezüglich gemeinsamer Interessen, sondern das Aufgeben seines politischen Standpunktes des persönlichen Vorteils willen. Prominente Vertreter der Bürgerbewegungen sehen das anders. Sie besetzen die Rolle des Opfers und postulieren Pragmatismus und Moral für unvereinbar. So werden sie von den aktuellen gesellschaftlichen Problemen überrollt. Dr.Gerd Arnold, Leipzig
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