Portrait: Die Pokerräuber von nebenan
An diesem Donnerstag werden werden die Urteile gegen die vier Pokerräuber gefällt. Wie wurden die vier Jungs aus Kreuzberg und Neukölln zu Tätern? Eine Spurensuche.
Ein grauer Vielstöcker im Norden Kreuzbergs, Satellitenschüsseln an den Balkonen, ein Wettbüro gleich gegenüber. Hier wohnte bis vor Kurzem Vedat S., ein schmächtiger, eher unauffälliger 21-Jähriger mit dunklem, buschigem Haarschopf. Jungs-Cliquen aus Einwandererfamilien hocken in der Nähe auf Bänken, spielen Karten, cruisen mit ihren BMX-Rädern über die betonierten Plätze. Auch Vedat traf hier seine Freunde. Ging in den Jugendclub, um Jüngeren zu zeigen, wie man Breakdance tanzt.
Seine Wohnung in dem Kastenbau bewohnt Vedat mit drei Brüdern. Eine Etage tiefer leben seine Eltern - die Mutter Hausfrau, der Vater Frührentner. Sechs Jahre ist Vedat alt, als seine Familie aus der Türkei nach Berlin kommt. Elf Geschwister hat der 21-Jährige. Sechs Schwestern, fünf Brüder. Es sind die Mädchen in der Familie S., die erfolgreich ihren Weg gehen.
Auch für Vedat läuft die Schule anfangs nicht schlecht. Er bekommt eine Gymnasialempfehlung, besteht aber das Probejahr nicht. Er macht seinen Realabschluss, bricht sein Fachabitur ab, findet keine Ausbildung. Stattdessen hängt er zu Hause ab. Oder im Block. Mit den Jungs.
Einmal versucht Vedat wegzukommen, aufzubrechen. Er pumpt sich Geld von Freunden, mehrere hundert Euro. Will damit einen Marktstand eröffnen, "für Boxershorts und Socken". Doch das Geld ist aufgebraucht, bevor irgendeine Lizenz erteilt ist. Am Ende bleiben nur Schulden. Irgendwann wird ihm auch die Sozialhilfe gestrichen. Vedat probiert Joints, das aufputschende Schmerzmittel Tilidin, auch mal Kokain. Die Polizei kennt Vedat, weil er einem Jugendlichen ein Handy abgezogen haben soll und an Schlägereien beteiligt war. Nichts Großes.
6. März: Die 19- bis 21-jährigen Vedat S., Mustafa U., Ahmad El-Aihad und Jihad C. überfallen das Pokerturnier am Potsdamer Platz. Beute: 242.000 Euro. Zwei Wochen später haben sich alle Täter gestellt.
14. Juni: Der "Poker-Prozess" beginnt. Heute fällt das Urteil.
IInhaftiert sind auch die mutmaßlichen Hintermänner: der 29-jährige Fluchtwagenfahrer Ibrahim El-M. und der 31-jährige Mohammed Abou-C., der vom Pokerturnier aus per Handy den Startbefehl zum Überfall gegeben haben soll. Ihr Prozess beginnt im August.
Hinweise auf die Täter sollen auch aus der Großfamilie Z. gekommen sein. Die soll anfangs von den Abou-C.s beschuldigt worden sein.
Das ändert sich am 6. März, ein Samstag. Es ist der Tag, als Vedat um kurz nach 14 Uhr mit drei Freunden ins Grand Hyatt Hotel am Potsdamer Platz stürmt, um Deutschlands größtes Pokerturnier zu überfallen. Maskiert, mit Machete und Schreckschusspistole. 242.000 Euro erbeuten sie am Ende. Zwei Wochen später sitzen alle vier Täter im Knast. Vier Kreuzberger und Neuköllner Jungs, 19 bis 21 Jahre alt. Kinder türkischer oder libanesischer Eltern. Vedat, Mustafa, Ahmad, Jihad. Seit Mitte Juni wird vor der Jugendkammer des Berliner Landgerichts gegen das Quartett verhandelt, heute fällt das Urteil. Es ist der Schlussstrich unter einer Überheblichkeit.
Vedat, sagt Dirk Lammer, sei im Grunde ein ziemlich durchschnittlicher Kreuzberger Jugendlicher. Lammer, ein Endvierziger mit Glatze und Hornbrille, ist Vedats Verteidiger. Sicher sei der Junge zu dem Pokerraub nicht "wie die Jungfrau zum Kinde" gekommen. Aber Vedats Biografie sei nicht untypisch für das Milieu, in dem er aufwuchs. Lammer will sagen: Da ist jemand in etwas reingeschlittert, das nicht nur ein paar Nummern zu groß für ihn war.
Es sind ganz ähnliche Biografien, die Vedat mit seinen drei Mitangeklagten teilt. Auch Mustafa U., ein kräftiger 20-Jähriger, kam mit drei Jahren mit seinen Geschwistern aus der Türkei nach Berlin. Ohne seinen Vater. Mustafa und Vedat kennen sich seit Kindertagen. Auch Ahmad El-A. und Jihad C. sind Söhne kinderreicher Einwandererfamilie. Alle vier sind Freunde, zumindest Bekannte, wohnen mitunter nur wenige Straßen voneinander entfernt. Keiner der vier hat eine abgeschlossene Ausbildung, keiner einen Job.
Jihad C. und Ahmad A. bringen es immerhin zu Erfolgen in ihren Boxvereinen. Seit frühen Jugendtagen boxt Jihad, ein kleiner, bulliger 19-Jähriger, trainiert täglich im Kreuzberger Viktoria 71, wird Berliner Juniorenmeister im Weltergewicht. Ahmad, ein sich lässig gebender 20-Jähriger mit gegeltem Seitenscheitel, kämpft seit seinem 14. Lebensjahr gar im Berliner Polizeisportverein. Kaum einer der Jugendlichen hier kommt nicht aus einer Kreuzberger oder Neuköllner Einwandererfamilie. Es geht nicht nur ums Siegen. Es geht auch um Disziplin, um Verlässlichkeit. 15 Kämpfe gewinnt Ahmad, wird Berliner Juniorenmeister. Er sei immer ein Außenseiter gewesen, sagt Ahmad vor Gericht. Das habe sich mit dem Boxen geändert. Es ist der 16. Kampf, Anfang 2008, in dem Ahmad erstmalig verliert. Ein unfairer Fight, wie er sagt. Ein Knockout, den er nicht bewältigt. Ahmad verlässt den Verein.
Boxen bringt kaum Geld
300 bis 600 Euro erhielten Jihad und Ahmad für ihre Kämpfe. Mehr Kohle gibt es anderswo. 4.800 Euro erbeutet Mustafa U. bei seinem ersten Überfall auf einen Tabakladen. Da ist er 17 Jahre. Bereits drei Jahre zuvor war er das erste Mal von der Polizei geschnappt worden, wegen Unterschlagung. Heute führen ihn die Beamten als Intensivtäter. 2007 landet Mustafa für eine achtfache Raubserie schließlich im Knast. Erst im Januar dieses Jahres wird der 19-Jährige entlassen. Bereits im Februar soll er wieder an einem Überfall auf ein Casino in Neukölln beteiligt sein - zusammen mit Vedat S. Neun Tage später sind beide Teil des Pokerraubs.
Die Vorstrafenregister von Vedat, Jihad und Ahmad fallen schmaler aus. Aber auch die drei sind polizeibekannt. Diebstahl, Körperverletzungen, Raub. Profiboxer wollten Jihad C. und Ahmad El-A. mal werden. Oder Polizist, Rettungsassistent. Vedat plante eine Lehre zum Immobilienkaufmann. Nichts klappte. Er habe eigentlich nur Freunde, die "nichts machen", sagt Ahmad seinem Gerichtshelfer. Mustafas großer Bruder Yusuf sitzt in Haft, Vedats Zwillingsbruder Mehmet ebenso. Es gibt für die Jungs Leichteres, als an Perspektiven zu glauben.
Es ist Jihads Onkel, Ibrahim "Ibo" El-M., der die vier und einen weiteren Freund an diesem 6. März zu McDonalds am Potsdamer Platz zusammentrommelt. Eine "Tasche ziehen" sollten sie, sagt der 29-Jährige. Das Tagesgeld vom Pokerturnier, drüben vom Hyatt. Ein einfaches Ding. "Eine Million" wäre damit zu machen. Der fünfte Mann springt ab. "Ibo" bestimmt Jihad mitzumachen. Der widerspricht nicht. Die anderen zögern nur kurz: eine Million.
Mit Gebrüll rennen die vier durch einen Seiteneingang ins Hyatt. Vedat springt über einen Tisch, greift sich Geld, das offen im Tresor liegt. Die zwei unbewaffneten Sicherheitsmänner wehren sich, einer nimmt Vedat in den Schwitzkasten. Ein Praktikant schafft es, eine Tasche mit 449.000 Euro Beute zu schnappen. Jihad und Mustafa eilen zurück, befreien Vedat - ohne Sturmhauben. Die vier entkommen über die Potsdamer Platz Arkaden, werden von Kameras gefilmt. Ibrahim El-M. fährt sie zu einer Tiefgarage in Friedenau, wo er das restliche Geld aufteilt, das sich die Jungs in Jacken- und Hosentaschen gestopft hatten. 241.930 Euro. 40.000 Euro für jeden. Den Rest behält "Ibo" - für sich und "den Tippgeber". Dann fahren die vier mit der S-Bahn nach Hause.
Es ist Vedat, der als Erster aufgibt - und seine drei Freunde verrät. Kurz danach stellen sich auch die anderen. Ende März fasst die Polizei Ibrahim El-M, Ende Mai auch Mohammed "Momo" Abou-C. Der 31-Jährige soll der "Tippgeber" und eigentliche Drahtzieher sein. Er selbst nahm am Pokerturnier teil, soll per Handy das Startsignal zum Überfall gegeben haben. Beide Hintermänner erwartet ein extra Prozess im August.
Die vier "Pokerräuber" werden im Saal 500 des Landgerichts wieder zu Neuköllner und Kreuzberger Jungs. In Hemden und mit gegelten Haaren sitzen sie zwischen ihren Anwälten. Fast schreckhaft reagiert Vedat auf Fragen des Richters, fährt sich immer wieder nervös durch die Haare. Der 21-Jährige wird als Einziger nach Erwachsenenstrafrecht beurteilt. Er würde seinen langjährigen Kumpel Mustafa immer noch als "guten Freund" bezeichnen, nuschelt Vedat, den Mithäftlinge "Verräter" nennen. "Das kann von ihm jetzt aber anders sein." Der Angesprochene reagiert nicht, gibt sich wie die anderen lässig. "Wars das jetzt?", fällt Mustafa dem Richter ins Wort, als dieser ihn befragt.
Schweigsam werden sie, geht es um die Beute, die bis heute fehlt. Ihre Mandanten hätten keinen Zugriff mehr auf das Geld, teilen die Verteidiger reihum mit. Einzig Mustafa U. lässt einen Tag nach seiner Verhaftung durch seinen Anwalt 4.000 Euro in einem Säckchen zurückgeben. Er habe nur 5.000 Euro erhalten und den Rest auf der Flucht verbraucht, beteuert U. vor Gericht. "Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht glauben muss", zeigt sich Richter Helmut Schweckendieck skeptisch.
Wo ist die Beute?
Auch Vedats Verteidiger Dirk Lammer kündigt an, dass sein Mandant 3.000 Euro zurückgeben könne. S. Familie habe dafür zusammengelegt. An seinen Beuteanteil komme Vedat dagegen nicht mehr ran. Es ist nicht unwahrscheinlich zu glauben, dass das Geld im Dickicht der Großfamilien der Angeklagten verschwunden ist. Vor allem die kurdisch-libanesische Familie des mutmaßlichen Drahtziehers Mohammed Abou-C. ist weit verzweigt, immer wieder sollen Mitglieder mit Straftaten im Drogenmilieu auffallen.
Der Respekt vor diesen Hintermännern reicht bis ins Landgerichts. Als "U2" bezeichnen Jihad und Ahmad in ihren Geständnissen Ibrahim El-M. Warum er bei der Polizei diesen noch mit vollem Namen genannt habe, fragt Richter Schweckendieck Ahmad El-A. Der 20-Jährige zuckt mit den Schultern. Auch daran, dass er bei der Polizei "Ibo" mit der Drohung zitiert habe, keine Namen zu nennen, da man sich "irgendwann wiedersehen" werde, könne er sich jetzt nicht mehr erinnern.
Das Wegducken unter die Älteren, die Stärkeren, ist sozialisiert. Jihad C. ist der älteste von sieben Geschwistern. Dennoch ist der Vater, gebürtiger Libanese, unangetastete Autorität. Er spricht mit seinem Sohn Arabisch, die Familie betet regelmäßig. Jihad muss jeden Abend um 20 Uhr zu Hause sein. Auch Ahmad wächst in einer streng muslimischen Familie auf, teilt sein Zimmer mit zwei Brüdern, betet mit der Familie. Als "Schande" empfindet der Vater die Tat, seinen Sohn besucht er in der JVA nicht. Auch Jihads Vater kommt nur einmal kurz ins Gefängnis, bricht den Besuch vorzeitig ab. Jihad schaut ihm nicht in die Augen.
Der Raub, das richtig große Ding - es war auch eine Chance auf Anerkennung, dort draußen auf der Straße. "Ich wollte im Kiez nicht als Feigling, als Angsthase dastehen", gesteht Ahmad El-A. vor Gericht. Er habe sich überreden, vom dem Geld locken lassen, habe mit dem Pokerraub "dazugehören" wollen. Mustafa lässt seinen Gerichtshelfer wissen, dass Ehre für ihn ein zentraler Wert sei. Er erwarte von anderen Respekt, weil er anderen auch Respekt erweise.
Als Staatsanwalt Frank Heller am Montag vier bis fünf Jahre Haft für die vier Angeklagten fordert, presst Ahmad die Lippen zusammen, fährt sich mit den Händen übers Gesicht. "Völlig überzogen fürs Jugendstrafrecht", schimpfen die Verteidiger. Dass Vedat seine Komplizen und Mustafa den Fluchtwagenfahrer Ibrahim El-M. verraten hätten, würde doch "Umkehr beweisen", zeigen, dass sie "die Brücken hinter sich zerschlagen" hätten. Mustafa U. wendet sich direkt an den Richter, bittet "um ein mildes Urteil". Eine Ausbildung zum Koch werde er machen, eine Familie gründen, wenn er "eine zweite Chance" bekomme. Auch die anderen beteuern, etwas aus ihrem "Leben machen zu wollen", wie leid ihnen die ganze Sache tut.
In einem Brief von Jihad C. aus der U-Haft klingt das noch anders. Der Raub habe ihn plötzlich zum "Star" gemacht, liest Richter Schweckendieck aus dem beschlagnahmten Schreiben vor. "Alle kennen mich hier drin." Käme er auf Bewährung raus, "wäre das so ein Jackpot". Die Zuhörer hinten im Landgerichtssaal lachen. Es sind die Freunde der vier Angeklagten.
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