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PorträtVon Karatas zu den Hochöfen von Thyssen

■ Kemal Kurt portraitiert den in Deutschland lebenden türkischen Schriftsteller Fakir Baykurt

1959 – ich war zwölf Jahre alt und Schüler in einem Istanbuler Internat – machte ein Buch Furore in der Türkei. Es hieß „Die Rache der Schlangen“, geschrieben hatte es der 1929 in Akcaköy nahe Burdur geborene, bis dahin wenig bekannte junge Autor Fakir Baykurt, ein Absolvent der legendären Dorfinstitute.

Die Handlung spielte in dem mittelanatolischen Dorf Karatas, einem der 40.000 Dörfer Anatoliens, die von jahrhundertealten Herrschaftsstrukturen geprägt sind. Seit sieben Jahren, seitdem der Feudalherr das Dorf an die Bauern verkauft hat und in die Stadt gezogen ist, schikaniert an seiner Stelle der Dorfvorsteher die hoch verschuldeten Bauern – am meisten Kara Bayram, den Ärmsten des Dorfes. Der hätte auch das alles über sich ergehen lassen, wenn es nicht seine Mutter gäbe, die stolze, zähe Bäuerin Irazca, die es mit dem Dorfvorsteher aufnimmt und erbittert um ihre Würde kämpft. Wegen der spannenden Handlung, des sozialen Engagements und der klaren, mit schönen Neologismen durchsetzten Sprache wurde das Buch von der Kritik und den Lesern begeistert aufgenommen. Mit diesem Roman erklomm der junge Schriftsteller Baykurt schon sehr früh die Spitze der modernen türkischen Literatur, wo er bis heute steht. Aber das Buch brachte ihm auch den Ruf ein, ein „Gommunist“ zu sein und kostete ihn seine Stellung als Lehrer. Der Film zu dem Buch blieb erst bei der Zensur hängen und führte nach seiner Freigabe zu wüsten Krawallszenen. Die Bühnenbearbeitung mußte am Abend der Urauführung abgesetzt werden. Reaktinäre besudelten Baykurt mit roter Tinte.

Die Literaturkritik erfand die Sparte „Dorfroman“ für das Buch, das viele Nachahmer fand. Ähnlich dem italienischen neorealismo, dessen Hauptwerk Carlo Levis „Christus kam nur bis Eboli“ ist, bemühte der „Dorfroman“ sich um eine schonungslos ehrliche Darstellung des Lebens auf dem Lande, um die sozialen Strukturen anzuprangern. Baykurts Charaktere blieben jedoch nicht im Dorf. Schon am Ende des zweiten Buches der Trilogie, „Mutter Irazca und ihre Kinder“, ziehen sie in die Stadt – Irazca bleibt, um allein weiterzukämpfen –, und das dritte Buch „Das Epos von Kara Ahmet“ (alle drei beim Ararat-Verlag, 1981–83) fokussiert ihr Leben in den Slums.

„Ich wollte schon immer über die Arbeitswelt schreiben“, sagt Baykurt, „und habe mich sehr für die türkischen Arbeiter in Deutschland interessiert.“ Die Gelegenheit dazu findet er, als er 1979 für ein Jahr nach Deutschland eingeladen wird und seine Zelte im Ruhrgebiet aufschlägt. Nach dem Militärputsch von 1980 ist eine Rückkehr nicht denkbar, denn Baykurt ist den neuen Machthabern in Uniform ein Dorn im Auge. Er hatte bis dahin mehrere sozialkritische Bücher veröffentlicht und als Vorsitzender der Lehrergewerkschaft bereits nach dem Putsch 1971 neun Monate in Untersuchungshaft (!) gesessen. Heute unterrichtet er türkische Kinder in einer Sonderschule in Duisburg-Homburg. „Seit über 40 Jahren schreibe ich“, sagt Baykurt, und an die 40 Titel sind es geworden. Ähnlich der „Irazca“-Trilogie entstand konsequenterweise in Deutschland eine „Duisburg“-Trilogie, die nach „Hochöfen“ und „Der große Rhein“ erst vor kurzem mit dem Roman „Trockenes Brot“ abschloß.

Baykurt hat die Lyrik, seine „erste Liebe“ wiederentdeckt. Beim Oberhausener Verlag Ortadogu veröffentlichte er 1987 seine neuen Gedichte „Ein langer Weg“, die in den Niederlanden als „vuurdoorns“ (Feuerdornen) erschienen. Mit „Sakarca, der tapfere Hahn, Die Schönste der Welt“ und „Die Stieglitze“ (Ortadogu) hat er drei schöne Märchenbücher vorgelegt.

Der in Berlin lebende Literaturkritiker und Essayist Adnan Binyazar ist der Ansicht, Baykurts Werk werde in Deutschland nicht genügend gewürdigt – weder von seinen Landsleuten, über die er schreibt, noch von der überwiegenden Mehrzahl der deutschen Leser, denen fremde Kulturen, selbst wenn sie sich in ihrer Nachbarschaft befinden, gleichgültig sind. Dennoch werden Baykurts fiktive, aber zum Anfassen realistisch anmutende, bis ins Detail stimmige Figuren – sei es eine alte Bäuerin, sei es ein Gastarbeiter am Hochofen von Thyssen – unsere politisch wirren und gewaltgeladenen Zeiten überleben. Das Pseudonym „Fakir“ – der Arme, der Mittellose – ist literarisches Programm und Lebensstil zugleich. Baykurt lebt schlicht und bescheiden, asketisch fast. Er ist zugänglich und aufgeschlossen. Nie gibt er mit seinem imposanten Werk an, nie versagt er seine Hilfe, wenn ein Nachwuchsautor ihn um Ratschläge, Durchsicht seines Manuskripts oder ein Vorwort für sein Buch bittet. Nicht von oben von einem Podest herab oder belehrend, sondern offen und kameradschaftlich kommt er dem Wunsch nach.

„Fakir“ ist höchst besorgt über die zunehmenden Angriffe auf Ausländer. „Die Regierung nimmt die Ausschreitungen auf die leichte Schulter“, sagt er. „Nur so konnte es soweit kommen. Man darf das verfassungsrechtlich verbriefte Recht zu demonstrieren, nicht mit organisierten und bewaffneten Überfällen auf Minderheiten verwechseln. Leider wird die Gefahr, die von den rechtsextremen Gruppen ausgeht, unterschätzt. Wir kennen die Mechanismen aus der Geschichte nur zu gut. Erst sind die ethnischen Minderheiten dran. An ihnen wird geübt und geprobt. Dann kommen die Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen demokratischen Kräfte an die Reihe. Leider muß man sagen, daß die erste Phase dieses Plans für die Rechten erfolgreich gelaufen ist: sie bekommen Beifall von der Bevölkerung. Noch ist es nicht zu spät. Will man aber das Schlimmste verhindern, muß man jetzt und energisch eingreifen.“

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